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Der Fall Amri und kein Ende in Sicht

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Bekanntwerden neuer Sicherheits-Pannen
Anis Amri verübte den Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016.
Anis Amri verübte den Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. © Andreas Trojak CC BY 2.0, via Flickr

"Nachdem vergangene Woche der Bericht im Auftrag des Berliner Senats die Pannen rund um das schreckliche Attentat am Breitscheidplatz aufgearbeitet hat, berichtet das ZDF heute von neuen, bislang unbekannten Ermittlungspannen. Demzufolge warnte ein Asylbewerber vor Anis Amri – aber die Polizei vernahm ihn erst nach dem Berliner Attentat. Moritz Körner, Vertreter der FDP im Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages, wählte in seiner Reaktion gegenüber dem ZDF deutliche Worte: „Das wäre, sollte sich das so bewahrheiten, ein eklatantes Versagen unserer Sicherheitsbehörden“. 
 
Allein im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum stand die Personalie Anis Amri an elf verschiedenen Sitzungstagen auf der Tagesordnung. Akribisch hat der Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag in der vergangenen Wahlperiode aufgeklärt, dass Ausländerbehörden und Innenministerium von Meldeauflagen bis hin zu Ausweisungsverfügung und Abschiebungsanordnung eine Fülle an Maßnahmen zur Verfügung standen, die ungenutzt blieben. Der Bundesinnenminister räumte ein, dass eine Inhaftierung vor dem Anschlag möglich gewesen wäre. Dass er dennoch nicht aus dem Verkehr gezogen wurde, lag an einer falschen polizeilichen Gefährlichkeitsprognose ex-ante, sicher nicht an ungenügenden Rechtsgrundlagen.
 
Doch wie sieht eine kluge Sicherheitspolitik aus, die Lehren aus den Versäumnissen zieht? Sie liegt jenseits von Fatalismus und einer Überwachungslogik, die immer nur auf neue und mehr Datenberge setzt. Sie ist grundrechtsschonend und effektiv, stellt sich gerade nicht die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht, sondern konzentriert sich auf gefährliche Einzelfälle. Von den wirklich gefährlichen Personen sollen unsere Sicherheitsbehörden alles wissen, von der überwältigenden Mehrheit der in Deutschland Lebenden hingegen so wenig wie möglich. Dass es im Gegenteil immer schwieriger wird, die Nadel im Heuhaufen der Datenberge zu finden, haben die Terroranschläge in Deutschland und Europa gezeigt. Obwohl die Pariser Attentäter im Januar 2015 auf die Redaktion von Charlie Hebdo und im November 2015 auf den Club Bataclan genauso behördenbekannt wie die drahtziehenden Attentäter von Stockholm, Barcelona, Hamburg und eben jener vom Berliner Breitscheidplatz waren, wurden die Anschläge nicht verhindert.
 
Angesichts des zunehmend transnationalen Charakters von Kriminalität und Terror kommen wir um eine behutsame Renovierung der deutschen Sicherheitsarchitektur und ihres Vollzugs nicht herum; organisatorisch, technisch, personell. Dazu gehört die Zusammenlegung von Landesverfassungsschutzämtern, die Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Übertragung der Aufgaben des Militärischen Abschirmdienstes und deren Abschaffung. Dazu gehören eine Vermeidung von behördlichen Doppelzuständigkeiten und eine Entflechtung nachrichtendienstlicher und polizeilicher Arbeit.

Überall dort, wo Bund und Länder sowie Nachrichtendienste, Verfassungsschutz und Polizei bisher informell zusammenarbeiten, braucht es klare Regeln und genau definierte Verantwortlichkeiten. Das betrifft vor allem das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum des Bundes und der Länder (GTAZ). Es benötigt dringend eine rechtsklare Festlegung seiner Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse sowie eine wirksame Dienst- und Rechtsaufsicht. Innerhalb Deutschlands und über europäische Grenzen hinweg brauchen wir zudem einheitliche IT-Systeme und einen funktionierenden Informationsaustausch, damit uns die wirklich gefährlichen Personen nicht durch die Lappen gehen. Wir brauchen Polizeigesetze der Länder, die auf hohem Grundrechtsniveau miteinander kompatibel sind, damit beispielsweise eine Observation bei Übertritt in ein anderes Bundesland nahtlos fortgeführt werden kann.

Wirksames Behördenhandeln erfordert neben der technischen insbesondere auch die notwendige personelle Ausstattung. Der Generalbundesanwalt hat lautstark beklagt, dass ihm massenhaft Personal zur Bewältigung der Terrorismusverfahren fehle. Aber nicht nur in Karlsruhe: Nach verschiedenen Schätzungen fehlen bundesweit 2.000 Richter und Staatsanwälte und etwa 16.000 Polizisten. Da liegen die Versäumnisse.

Diese Maßnahmen kommen ohne weitreichende, flächendeckende und anlasslose Grundrechtseingriffe aus. Ihrer Priorisierung in der Sicherheitsdebatte ist Ausdruck der liberalen Vorstellung von einem starken Staat. Dieser Staat ist in seinen Kernaufgaben wie dem Gesetzesvollzug im Bereich der inneren Sicherheit stark und lässt seine Bürger ansonsten in Ruhe, aber nicht im Stich. Er konzentriert sich auf die tatsächlichen gefährlichen Personen und wirkt präventiv einer Radikalisierung entgegen. Ein solcher Staat stellt seine Bürger nicht unter Generalverdacht, er achtet ihre Freiheitsrechte und verteidigt sie auch in Krisensituationen."