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Verwaltungsdigitalisierung
X-Road für Deutschland

Lehren aus der estnischen Verwaltungsdigitalisierung
Estlands digitale Errungenschaften
Eine Ausstellung in Tallinn präsentiert Estlands digitale Errungenschaften © picture alliance/AP Photo | David Keyton

Die Corona-Krise hat schonungslos offengelegt, wie groß die Defizite der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland sind. Der Blick nach Estland zeigt, wie es besser geht. Auf dem Weg zum digitalen Staat kann Deutschland viel von E-Estonia lernen, wie das Gutachten „X-Road für Deutschland" aufzeigt. Wie das estnische Erfolgsmodell funktioniert und wie die digitale Transformation auch in Deutschland gelingen kann, erläutern Justus Lenz und Florian Hartleb im Interview.

freiheit.org: Sie haben untersucht, welche Lehren sich aus dem estnischen Erfolg für die deutsche Verwaltungsdigitalisierung ziehen. Was macht Estland anders und worin liegt Ihrer Ansicht nach der estnische Erfolg bei der Digitalisierung begründet?

Florian Hartleb: Estland, ein Land im Nordosten Europas, stellte bereits vor einer Generation, also noch vor dem EU-Beitritt die Weichen und erkannte sehr früh, dass Digitalisierung der neue Rohstoff werden wird. Vor allem setzte man auf e-Lösungen, ohne dabei dem ganz großen Masterplan zu vertrauen. Der Prozess ging von oben aus. Seit 2000 arbeitet das Kabinett papierlos, 2005 wurde es möglich, bei Wahlen online zu wählen. Fast die Hälfte der Bürger nutzten das e-voting, wichtig vor allem für Menschen, die im Ausland leben. Der amtierende deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier will nun von Estland lernen und ein Team einfliegen lassen, wie er diese Woche Montag äußerte. Dabei hätte man das auch schon vor Jahren machen können – Estland ist schließlich schon seit langem Vorreiter bei der Verwaltungsdigitalisierung. Das weiß man seit vielen Jahren.

Wie geht Estland mit der aktuellen Pandemie um? Beispiel Bildungssektor – wie funktioniert der Schulunterricht?

Florian Hartleb: Estland hat die digitale Schule längst umgesetzt, liegt ja auch bei der Pisa-Studie in Europa vorne. Alle Lehrerinnen und Lehrer sind verpflichtet, Schulmaterialien sofort online zu stellen. Der digitale Ruck gelang hier vor allem durch die enge Kooperation mit Unternehmen, der Schlüssel generell für das Verstehen des estnischen Weges.

E-Gesundheit spielt eine wesentliche Rolle in Estland. Wie wird Digitalisierung im Gesundheitssektor angewendet?

Florian Hartleb: Die digitale Gesundheit ist ein zentraler Baustein der Digitalisierungsoffensive, und auch der sensibelste. Die Esten wissen um die höchstpersönliche Bedeutung von Gesundheitsdaten. Wenn ich zur Apotheke gehe oder zum Arzt, braucht es kein Papier. Wenn ich zum Augenarzt gehe, kann er beispielsweise mit meiner Einwilligung auf meine Gesundheitsdaten zugreifen. Die Daten meines Sohns sind verfügbar, etwa die bereits erfolgten Impfungen. Die vernetzte Gesundheit rettet Leben, wenn das Krankenhaus schon die Daten vom Patienten im Krankenwagen hat. Estland hat ja nun auch den digitalen Impfpass entwickelt, ein Projekt mit der Weltgesundheitsorganisation, das Ende April eingeführt werden soll.

Schon im Jahre 2001 wurde ein Modell entwickelt, das die vier Stufen hin zu einem funktionierenden vollumfassenden E-Government darstellt. Was bedeuten die Stufen der Digitalisierung für Estland?

Florian Hartleb: Estland ist auf der höchsten Stufe, da Digitalisierung eben nicht meint, pdf-Dokumente online verfügbar zu machen oder einen Twitteraccount einzurichten. Entscheidend ist das Once-Only-Prinzip, das meint, die Daten einmal an den Staat abzugeben. Das sorgt dann für die Möglichkeit einer Dateninfrastruktur, einer Vernetzung mit Schnittstellen. Hierzu wurde die X-Road geschaffen, die es auch in Deutschland braucht, um die verpflichtenden Pläne des Onlinezugangsgesetzes umzusetzen.

Wie ist dies vereinbar mit dem Datenschutz? Sie haben festgestellt, dass die digitale Gesellschaft in Estland dem Staat vertraut. Knapp 83 Prozent glauben ganz oder teilweise, dass die staatlichen Institutionen die privaten Daten schützen. Woran liegt das?

Florian Hartleb:
Datenschutz ist sehr wichtig, aber kein Alibi und keine heilige Kuh. Auch Estland erfüllt die Anforderungen der Datenschutzgrundverordnung. Wir brauchen den mündigen Bürger, der wie in Estland bei Verstößen sofort agiert. Estland ist ja auch führend, was Cybersecurity betrifft. 2007 gab es einen Angriff aus Russland, der dazu führte, dass in Tallinn ein NATO Cyber Security-Zentrum errichtet wurde. Estland, einst wider Willen Teil der Sowjetunion, vertraut dem Staat und seinen Institutionen. In Deutschland ist das anders. Man gibt seine Daten eher Facebook und Whatsapp, als dem Staat.

Estland ist in Sachen Digitalisierung Deutschland voraus. Sie fordern jetzt auch eine X-Road für Deutschland. Was meinen Sie damit?

Justus Lenz: Die X-Road ist das verschlüsselte Datennetzwerk, über das in Estland alle E-Government-Dienstleistungen abgewickelt werden. Zusammen mit der e-ID und dem zentralen Nutzerkonto für öffentliche Dienstleistungen ist es die wichtigste Grundlage für E-Estonia, den digitalen Staat in Estland. Auf- und ausgebaut wird die X-Road übrigens schon seit 2001 – Estland ist uns 20 Jahre voraus! Deshalb auch der Titel: Wir brauchen endlich eine deutsche X-Road. Die vor kurzem beschlossene Verknüpfung der öffentlichen Register ist ein erster Schritt hierfür. Da wir aber die letzten zwanzig Jahre bei der Digitalisierung des Staates verschlafen haben müssen wir schnell prüfen, ob wir nicht einfach die in Estland erprobte Infrastruktur übernehmen können, vielleicht auch nur teilweise. Das könnte die Verwaltungsdigitalisierung enorm beschleunigen.

Das Onlinezugangsgesetz für E-Services verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis spätestens Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen auch digital über Verwaltungsportale anzubieten. Wie sollte die Politik in Deutschland jetzt handeln?

Justus Lenz: Das Ziel ist natürlich richtig, aber der Weg ist meiner Ansicht nach falsch. Die Verwaltungsdigitalisierung kann nur erfolgreich sein, wenn die notwendigen Grundlagen geschaffen sind. Also X-Road, Bürgerkonto und eine eID, die auch in der Praxis genutzt wird. Wir haben bis jetzt in Deutschland immer versucht einzelne Dienstleistungen, beispielsweise die Steuererklärung zu digitalisieren. Das war im Bereich der Finanzverwaltung auch erfolgreich und klappt in der Praxis. Nur sind dabei immer Insellösungen entstanden, die das Gesamtproblem nicht lösen. Deshalb ist es wichtig erst die Grundlage zu schaffen – ohne wird das Ziel der vollständigen Digitalisierung bis Ende 2022 nicht zu halten sein. Das zeichnet sich bereits deutlich ab.

Was kann Deutschland von Estland in Sachen Verwaltungsdigitalisierung lernen?

Justus Lenz: Erstens können wir von den Grundprinzipien lernen, die in Estland hinter dem Erfolg stehen. Dazu gehört das volle Engagement der Politik, die das Projekt von Anfang an als Chefsache vorangetrieben hat. Von zentraler Bedeutung war sicher auch die konsequente Nutzerorientierung, also die Entwicklung von Dienstleistungen mit dem Ziel, dass diese auch von allen Bürgerinnen und Bürgern einfach und gerne genutzt werden. Sehr wichtig war auch, dass von Anfang an der Privatsektor einbezogen wurde: So wurde die eID in Estland wahrscheinlich deshalb schnell und breit akzeptiert, weil sie u. a. auch fürs online Banking genutzt werden konnte und damit Vertrauen entstand.

 

Dr. phil. Florian Hartleb, ist Politikwissenschaftler und Berater sowie Publizist. Er lebt seit 2014 in Tallinn/Estland und begleitet von dort aus die digitale Transformation in Deutschland.

Justus Lenz ist Referent für Wirtschaft und Finanzen im Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Berlin.