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Wahlen
Ukraine – Dezentralisierung im Quadrat

Ukrainische Kommunalwahlen stärken lokale Eliten
Wahlkabinen in Kiew
Wahlkabinen in Kiew © picture alliance / Photoshot

Die ukrainischen Lokalwahlen vom 25. Oktober 2020 waren in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Erstmals nach Abschluss der 2014 begonnenen Dezentralisierungsreform waren landesweit etwa 27 Mio. Ukrainerinnen und Ukrainer aufgerufen, Regionalräte, Bürgermeister sowie Stadt- und Gemeinderäte zu wählen, viele davon in den neu gebildeten Vereinigten Territorialgemeinden. Die Bedeutung der lokalen Selbstverwaltungen ist durch die Reform enorm gestiegen, da diese nun über erheblich mehr Steuermittel und Entscheidungskompetenzen verfügen. Doch nur knapp 37 Prozent der Menschen machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch – ein Allzeit-Tief. Auch wenn die Coronakrise erschwerend hinzukam, spiegelt die niedrige Beteiligung doch eine breite Enttäuschung in der Bevölkerung wider, die sich nicht nur, aber erheblich auf die Amtsführung von Präsident Selenskij und seiner Parlamentsfraktion „Diener des Volkes“ bezieht.

Ausgenommen von der Wahl waren – neben den nicht regierungskontrollierten so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie der Krim – 18 Gemeinden in den regierungskontrollierten Teilen der Regionen Luhansk und Donezk, die aufgrund ihrer Frontnähe derzeit unter zivil-militärischer Verwaltung stehen. Dort sei die Sicherheit des Wahlprozesses nicht gewährleistet, hieß es zur Begründung. Der Schritt ist umstritten, da es an nachvollziehbaren Kriterien fehlt und der zivil-militärischen Verwaltung Interessenskonflikte vorgeworfen werden. In denselben Kommunen ist unter teils schwierigerer Sicherheitslage bis 2019 sehr wohl gewählt worden.

Neues Wahlgesetz in Aktion

Erstmals wählten die Ukrainerinnen und Ukrainer nach einem neuen Wahlgesetz, das erst im Juli 2020 verabschiedet worden war. Es enthält mehrere Elemente, durch die demokratische Prozesse gestärkt werden dürften. So wurde die Höhe der Kaution für die Kandidaten erheblich abgesenkt und machte die Partizipation somit unabhängiger vom Geldbeutel der Kandidaten. Ein Fortschritt ist ebenfalls die Einführung einer Genderquote – mindestens zwei von fünf Kandidaten auf den Parteilisten müssen weiblich sein. Nicht zuletzt ist das neue Wahlgesetz ein Versuch, das Parteiensystem zu stärken: Bereits in Städten ab 10.000 Einwohnern (anstatt 90.000 wie bisher) findet nun eine reine Verhältniswahl mit offenen Listen statt. Damit haben die Wählerinnen und Wähler zumindest einen gewissen Einfluss auf die tatsächlich ins Amt kommenden Personen, und dem Verkauf guter Listenplätze wird weitgehend der Boden entzogen. Auch für ein Bürgermeisteramt kann man nur aus einer Partei heraus kandidieren. De facto sieht es so aus, dass starke lokale Akteure, die unter altem Recht als Einzelkandidaten angetreten wären, im Vorfeld der Wahl nun schlicht „ihre“ Partei gründen. Eine Stärkung echter politischer Parteien ist damit nicht erreicht. Zusätzlich sind das neue Wahlrecht und insbesondere die Wahlzettel kompliziert und Fehler beim Ankreuzen und Auszählen kaum zu vermeiden.

Gleich, frei und fair?

Wenngleich Wahlbeobachtung pandemiebedingt nicht im gewohnten Umfang möglich war, gab es sowohl ukrainische als auch internationale Beobachter. Sie bescheinigten der Wahl im Wesentlichen einen ordnungsgemäßen Verlauf. Wie bei vorhergehenden Wahlen wurden verbreitete Versuche zum Wählerkauf – im Pandemiejahr teils durch Ausgabe von Masken und Desinfektionsmittel statt des traditionellen Buchweizens – und der Einsatz administrativer Ressourcen im Wahlkampf bemängelt. Am Wahltag selbst wurde eine Vielzahl von Verstößen gemeldet, die sich zumeist gegen das Agitationsverbot und die Hygieneregeln richteten.

Viel Aufmerksamkeit und Kritik zog eine kurzfristig angekündigte Wählerbefragung des Präsidenten auf sich, die er vor den Wahllokalen und angeblich auf Kosten seiner Partei durchführen ließ. Die Wähler wurden nach ihrer Meinung zu lebenslangen Haftstrafen für hochgestellte Personen gefragt, die der Korruption überführt sind; ebenso wurden ihre Haltungen zur Verkleinerung des Parlaments, zur Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke, zur Errichtung freier Wirtschaftszonen im Donbas und zur Einforderung von Sicherheitsgarantien aus dem Budapester Memorandum abgefragt. Davon abgesehen, dass die Durchführung dieses „Referendums“ rechtlich mehr als zweifelhaft war, waren weder die Fragen noch ihre möglichen politischen Konsequenzen ausreichend klar. Schließlich verlief die Durchführung selbst chaotisch, fand nur an der Hälfte der Wahllokale statt, und zahlreiche Berichte belegen, dass mehrfach abgestimmt werden konnte. Wenn es sich hier um einen populistischen Versuch Selenskijs handelte, seine Wählerbasis an die Wahlurnen zu bringen, so hat er ihm zumindest keinen Sieg beschert.

And the winner is...

Die Lokalwahlen zeigten wie erwartet, dass es mit der Euphorie über den Fernsehpräsidenten, seine „neuen Gesichter“ und seine Versprechungen einer sauberen Politik, einer Friedenslösung im Donbas und eines Wirtschaftsaufschwungs lange vorbei ist. In den Regionalhauptstädten konnte seine Partei „Diener des Volkes“ laut Nachwahlbefragungen nur in Selenskijs Heimatstadt Kriwij Rih und im transkarpatischen Uschgorod eine einfache Mehrheit im Stadtrat erlangen, in vielen Städten kamen sie mit ca. 10 bis 15 Prozent auf den dritten oder vierten Platz und liegen in keiner Bürgermeisterwahl vorne. Im Osten und Süden verloren sie vor allem an die prorussische Oppositionsplattform „Für das Leben“. Doch auch die anderen auf nationaler Ebene etablierten Parteien konnten kaum glänzen. Die eigentlichen Gewinner sind die starken Amtsinhaber als Bürgermeister mit ihren lokalen Parteien. In den Regionalhauptstädten müssen zwar fast alle von ihnen in einen zweiten Wahlgang, dürfen aber mit Wiederwahl rechnen. Ganz offenbar vertrauen die Menschen den lokalen Politikern – so sehr sie im Einzelfall durch Korruptionsvorwürfe belastet sind – mehr als der nationalen Politik. Die Coronakrise mag ihren Anteil an diesem Trend haben: Etliche Bürgermeister hatten sich in populistischer Manier gegen die zentralen Lockdown-Maßnahmen gestellt und sie in ihren Städten schlicht für ungültig erklärt.

Liberale Kräfte behaupten sich in schwierigem Umfeld

Die kleinen liberalen Parteien und Partner der Stiftung für die Freiheit hatten es wie gewohnt schwer, die 5-Prozent-Hürde zu überspringen, zumal das Gesetz keine Wahlbündnisse gestattet. Sie bilden aber punktuell ein wichtiges Gegengewicht zu den herkömmlichen, zumeist von Korruption durchdrungenen politischen Kräften. Die „Bürgerposition“ des Ex-Verteidigungsministers Grytsenko zeigte nach den Parlamentswahlen 2019 sichtbare Zerfallserscheinungen und hat offenbar viele Lokalmandate abgeben müssen. Die „Kraft der Menschen“ zog in mindestens 15 Lokalparlamente vor allem im Süden und Osten des Landes ein, in einige davon zum ersten Mal. Die Partei hat besondere Bedeutung in Kriwij Rih, wo sie nun auch in jedem Stadtbezirksrat vertreten ist. Sie erreichte den Wiedereinzug in Mariupol und ist erstmals im Stadtrat Ternopil vertreten. Besondere Erfolge feierten ihre Bürgermeister Jurij Bova in Trostjanets und Wolodymyr Schmatko in Tschortkiw, die mit 65 bzw. 85 Prozent wiedergewählt wurden. Auch der Bürgermeisterposten in der Territorialgemeinde Selenodolsk ging an die „Kraft der Menschen“. Ein neuer Spieler im liberalen Feld ist die vom Sänger Swjatoslaw Wakartschuk gegründete „Stimme“, die die kleinste Fraktion im ukrainischen Parlament stellt. Ihr gelang es, mit ca. 150 Abgeordneten in die Räte etwa zehn großer Städte und etlicher Territorialgemeinden einzuziehen, darunter in Kyjiw, Lwiw, Uschgorod, Tscherkassy und sogar einigen Gemeinden im Donbas. In Tscherkassy erreichte der Bürgermeisterkandidat die zweite Runde mit Aussicht auf einen Sieg in der Stichwahl. Nach dem Einzug ins Parlament im vergangenen Jahr zeigt die Partei damit gute Ansätze, sich trotz des Ausscheidens von Wakartschuk in den Regionen zu etablieren. Die genannten Ergebnisse sind vorläufige Angaben – die Auszählung und Veröffentlichung der amtlichen Endergebnisse wird noch mehrere Tage in Anspruch nehmen.

Fazit

Die Lokalwahlen haben die Dezentralisierung der Ukraine im guten wie im schlechten Sinne verstärkt. Mit dem Wahlgang gilt die Dezentralisierungsreform als erfolgreich abgeschlossen, und die neu gewählten Gremien können in weit größerem Ausmaß als bislang die Geschicke ihrer Städte und Kommunen gestalten. Die Wahlen haben zudem erneut gezeigt, dass demokratische Spielregeln in der Ukraine im Großen und Ganzen funktionieren. Dennoch bedeuten die nun sehr starken Bürgermeister und lokalen Eliten auch eine potentielle Gefahr für die Integration und Regierbarkeit des Landes. Der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen auf Kommunal-Ebene war dafür ein Warnsignal. Nicht zuletzt liegt hier ein Ansatzpunkt für russische Destabilisierungsversuche.

Wie sich das schlechte Abschneiden der „Diener des Volkes“ auf die nationale Politik auswirkt, wird sich zeigen. Bereits jetzt ist die absolute Mehrheit der Selenskij-Fraktion im Parlament Makulatur, und Mehrheiten kommen nur noch mit Hilfe anderer wechselnder Abgeordnetengruppen zustande. Die Bildung einer einheitlichen Fraktion oder gar ein echter Parteiaufbau ist zu keinem Zeitpunkt gelungen, einflussreiche Akteure wie der Oligarch Ihor Kolomoiskij drängen immer stärker ins Feld. Wenn die nächsten Monate eine neuerliche Regierungsumbildung oder gar vorgezogene Paralamentswahlen mit sich bringen, wird das auch eine Nachwirkung des 25. Oktober sein.

Die Lokalwahlen in der Ukraine sind auch Thema bei der Jahreskonferenz der Kyjiwer Gespräche am 2. und 3. November 2020, die Sie hier im Livestream verfolgen können.