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Human Rights Defenders
Veysel Ok

„Lasst uns unermüdlich unsere Einsprüche und Anträge vorbringen!“
Veysel Ok

Veysel Ok

© FNF

Veysel Ok ist Anwalt für Medien- und Pressefreiheit in Istanbul. Zunächst arbeitete er als Rechtsberater für die inzwischen aufgelöste Tageszeitung Taraf. Er gründete die Nichtregierungsorganisation „Media and Law Studies Association“ (MLSA), die Schriftsteller, Schriftstellerinnen und Medienschaffende, die Einschüchterung, Überwachung, Verleumdungskampagnen und rechtlichen Schikanen ausgesetzt waren, pro-bono rechtlich unterstützt. Er hat inzwischen mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten verteidigt, unabhängig von ihrem ideologischen, politischen und ethnischen Hintergrund oder ihrem Bekanntheitsgrad. Dazu gehören Schriftsteller und Journalisten, die von der türkischen Regierung verfolgt wurden, wie der Schriftsteller Ahmet Altan und der Journalist Deniz Yücel. Auch außerhalb des Gerichtsgebäudes setzt sich Veysel Ok für Medienschaffende und Andersdenkende ein, die zu Unrecht inhaftiert wurden, weil sie ihre freie Meinung geäußert haben. Aufgrund seiner Tätigkeit und seines besonderen Engagements für die Pressefreiheit wurde Veysel Ok selbst schon überwacht und juristisch verfolgt.

Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit:Wie sind Sie als praktizierender Anwalt dazu gekommen, sich für Menschenrechte einzusetzen?

Veysel Ok: Ich praktiziere seit etwa 15 Jahren als Anwalt und habe die meiste Zeit im Bereich Menschenrechte gearbeitet. Mein besonderes Interesse galt der Meinungsfreiheit und der Unterdrückung von Journalisten und Journalistinnen. Als ich gerade frisch als Anwalt zugelassen war, habe ich viele Artikel in Zeitungen über Menschenrechtsthemen geschrieben. Darunter auch in der Taraf. Zu dieser Zeit war die Taraf eine Zeitung, die über kritische politische Themen im Land berichtet hat und besonders für ihre Veröffentlichungen gegen die sogenannte militärische Vormundschaft bekannt war. Aus diesem Grund war Taraf mit vielen Gerichtsverfahren konfrontiert. Irgendwann habe ich von Taraf das Angebot erhalten ihr Anwalt zu werden. Viele Jahre lang habe ich versucht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeitung vor Verfolgung zu schützen. Ich habe Hunderte von Klagen eingereicht und genau soviel Journalisten udn Journalistinnen verteidigt. Jetzt bin ich Co-Direktor der Media and Law Studies Association (MLSA), der wichtigsten und größten Organisation für Meinungsfreiheit in der Türkei.

Wofür setzt sich die Media and Law Association genau ein?

Unsere Hauptaufgabe besteht darin, Journalistinnen und Journalisten, die attackiert werden und vor Gericht müssen, pro bono juristischen Beistand zu leisten. Wir vertreten sie sowohl in der Türkei als auch vor internationalen Gerichten. Derzeit haben wir mehr als 160 Klientinnen und Klienten, darunter Journalisten, Journalistinnen, Künstlerinnen, Aktivistinnen und Rechtsanwälte und Anwältinnen. Als einzige Organisation in der Türkei beobachten wir außerdem systematisch Verfahren. Dadurch überwachen wir fast alle Fälle von Meinungsfreiheit in der Türkei und erstellen regelmäßig Berichte über Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Wir schicken diese Berichte an lokale und internationale Behörden und tragen dazu bei, dass die Probleme mit fairen Verfahren lösungsorientiert angegangen werden. Mit dem Projekt FreeWebTurkey kämpfen wir gegen die Internetzensur im Land und bemühen uns, die allgemeine Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Wir organisieren auch gezielte Schulungen, die sich an Journalistinnen und Journalisten sowie an Anwältinnen und Anwälte richten.

Können sie uns einen konkreten Fall schildern, der die Missstände im Justizsystem unterstreicht?

Ich erzählte eine lustige, aber zugleich auch tragische Erfahrung. Der Journalist Deniz Yücel, der auch deutscher Staatsbürger ist, wurde 2017 verhaftet. Er war monatelang ohne jede Begründung und ohne Anklage inhaftiert. Damals wurden meine zahlreichen Einsprüche und Anträge auf Entlassung immer mit der gleichen rechtswidrigen Argumentation abgelehnt. Monate später habe ich mit Erlaubnis meines Mandanten einen Antrag, der nur von Fußball gehandelt hat, beim Gericht eingereicht. Mein Ziel war es, die Copy-und-Paste-Entscheidungen aufzudecken, die ohne Beachtung meiner Einsprüche und Anträge getroffen wurden. Es war riskant. Hätte das Gericht bemerkt, dass ich mich lustig mache, hätte es eine Strafanzeige gegen mich stellen können. Ich musste das Risiko eingehen und dieses Spiel durchziehen, um einfach mal öffentlich zu machen, dass das Gericht keine Einwände gelesen hat. Das hat ein gutes Bild von der türkischen Justiz vermittelt. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Fußballartikel gelesen, also habe ich jeden Artikel gegoogelt, den ich im Internet finden konnte und ihn zusammengefasst. Schließlich lehnte das Gericht den „Fußballantrag” mit der gleichen Begründung ab – ohne den Einspruch überhaupt gelesen zu haben, sondern hat ihn als Entlassungsantrag betrachtet. Dieser Vorfall ist lustig und tragisch zugleich, aber er zeigt doch sehr gut, was aus dem türkischen Justizsystem geworden ist.

Wurden Sie persönlich schon einmal verklagt?

Ja, nach dem Putschversuch 2016 übernahm ich die Vertretung von vielen bekannten Intellektuellen in der Türkei, die zur Zielscheibe der Regierung geworden sind. Ich war zugleich der Anwalt von Journalisten und Journalistinnen, die unmittelbar den Zorn der Politik zu spüren bekommen haben. Zu dieser Zeit erschienen in vielen regierungsfreundlichen Publikationen Nachrichten über mich und es wurden Artikel über meine Aktivitäten als Anwaltveröffentlicht. Nach diesen Veröffentlichungen wurde ich verklagt und es gab eine Steuerprüfung meiner Geschäftstätigkeiten. Ich musste einige Geldstrafen zahlen. Ich wurde auch von der Justiz schikaniert, weil ich in einem Interview, das ich 2017 gab, geäußert hatte, dass „die türkische Justiz nicht unabhängig sei”. Auf eine Beschwerde von Präsident Erdoğan hin wurde ich wegen Beleidigung der türkischen Justiz verklagt und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Mein Fall liegt nun vor dem Verfassungsgericht und wir warten auf dessen Entscheidung. 

Was sind die größten Herausforderungen für Anwältinnen und Anwälte? Wodurch könnte ihre Situation verbessert werden?

Anwältinnen und Anwälte leisten eine sehr wichtige Arbeit bei der Aufdeckung und Meldung von Menschenrechtsverletzungen. Deshalb sehen sie sich in autoritären Regimen dem größten Druck ausgesetzt. In der Türkei werden zahlreiche Anwältinnen und Anwälte aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit inhaftiert. Gegen viele von ihnen werden Verfahren eingeleitet, und sie sind mit steuerlichen Problemen konfrontiert, die politisch motiviert sind. Ich denke, dass die Solidarität der internationalen Rechtsinstitutionen besonders wichtig ist. Entscheidend sind auch Bemühungen, die Frage der richterlichen Unabhängigkeit in der Türkei zur Priorität zu erklären und die notwendigen Rechtsreformen einzuleiten, um den Schatten der politischen Macht, der gerade über der Justiz hängt, zu beenden. Natürlich ist es auch wichtig, dass europäische Juristinnen und Juristen in die Türkei kommen, um die Anhörungen ihrer Kolleginnen und Kollegen zu verfolgen und Berichte zu veröffentlichen, die zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit beitragen.

Welche Botschaft möchten Sie Ihren Anwaltskollegen mit auf den Weg geben?

Gerechtigkeit stirbt nicht und wird nie vollkommen verschwinden. Manchmal ist sie eine Weile eingefroren oder verblasst etwas, aber eines Tages wird sie definitiv wieder kommen. In diesem Sinne: Lasst uns weiterhin unermüdlich unsere Einsprüche und Anträge vorbringen! Eines Tages, wenn die Gerechtigkeit zurückkehrt, lasst uns denjenigen entgegentreten, die unsere Rechte verletzt haben. Die Geschichte ist immer so verlaufen, es gibt also keinen Grund zu verzweifeln. Viele Grüße an alle.