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Publikation

Digitale Überwachung und die Auswirkungen auf den Journalismus in Russland

Das Medienumfeld in Russland wird immer rauer und die zunehmende digitale Überwachung macht es für Journalisten schwierig, ihrer Arbeit nachzugehen. Die beiden Autoren Andrei Soldatow und Irina Borogan beschreiben in ihrer Publikation das aktuelle Umfeld, in dem sich Journalisten in Russland befinden, die Überwachungsstrukturen der russischen Regierung und wie Journalisten dennoch Wege finden, sich anzupassen und ihre Privatsphäre mit eigenen Mitteln zu schützen. Der jüngste Aufschwung des investigativen Journalismus in Russland zeigt, dass diese Journalisten nicht gewillt sind, den zunehmenden Schwierigkeiten und dem zunehmenden Druck nachzugeben.

Was entscheidend ist, ist die Information, und nicht, was Sie darüber denken.

Anna Politkovskaya

Ursprünge

Die systematische, unaufhaltsame Offensive des Kremls gegen den Journalismus fing im Jahr 1999 an, als der zweite Tschetschenienkrieg im Nordkaukasus begann. Zu der Zeit war der kürzlich zum Premierminister ernannte Vladimir Putin ein aufgehender politischer Stern und neuer Protegé von Boris Jelzin. Er investierte seine gesamte Reputation in den Krieg, sodass er unbedingt einen militärischen Sieg brauchte. Dazu musste er dem russischen Volk zuerst einmal den Krieg verkaufen und es überzeugen, dass die Armee siegen konnte.

Dies warf eine große, unbequeme Frage auf: Wieso hatte genau dieselbe russische Armee vier Jahre zuvor den ersten Tschetschenienkrieg verloren? Putin hätte den Staatschef verantwortlich machen können, doch hätte dies bedeutet, Jelzin der Unfähigkeit zu bezichtigen, was kaum möglich war, da Jelzin noch immer Russlands Präsident war. Er hätte es auf die Armee schieben können, aber auch dort gab es keinen Wechsel unter den befehlshabenden Generälen. Stattdessen entschied sich Putin dafür, die Überbringer der Nachrichten verantwortlich zu machen. Es waren die russischen und ausländischen Journalistinnen und Journalisten, die die Bemühungen Russlands während des ersten Tschetschenienkrieges untergraben hatten – so die Botschaft, die der Kreml zu verbreiten begann. Die westlichen Journalistinnen und Journalisten hätten dies getan, weil der Großteil von ihnen Spione waren und die russischen Kolleginnen und Kollegen hätten mitgemacht, da sie entweder korrupt oder dumm waren. Die von Angst vor Terroranschlägen in Moskau geplagte russische Öffentlichkeit wollte einen starken Anführer und akzeptierte weitgehend die Idee der verräterischen Medien. Der Kreml führte eine strenge Zensur der Berichterstattung über den zweiten Tschetschenienkrieg ein. Einige Journalistinnen und Journalisten wurden der Region verwiesen, die Behörden änderten die Auslegung der Gesetze so, dass die Darstellung einer anderen Seite der Geschichte – nämlich der tschetschenischen Seite – als illegal deklariert wurde.1 Journalistinnen und Journalisten wurde es untersagt, tschetschenische Kämpferinnen und Kämpfer zu zitieren, da dies ab jenem Zeitpunkt als Unterstützung von Terrorismus betrachtet wurde. Somit wurde es so gut wie unmöglich, mit Zivilisten, Opfern oder Verwandten in der Kriegszone zu sprechen. Das russische Militär führte Sonderregelungen für den Zugang zu den Bereichen ein, in denen die Militäraktionen stattfanden.

Der Kreml führte zudem ein Konzept ein, das uns allen inzwischen allzu bekannt ist: Informationskrieg und Informationssicherheit. Im Jahr 2000 erstellte der Sicherheitsrat die „Doktrin zur Informationssicherheit der Russischen Föderation“, die eine ungewöhnlich vollumfängliche Liste von Bedrohungen enthielt: von der „Kompromittierung von Schlüsseln und dem kryptografischen Schutz von Informationen“ über „die Abwertung geistiger Werte“, „die Reduzierung geistigen, moralischen und kreativen Potenzials der russischen Bevölkerung“ und „der Manipulation von Informationen (Desinformation, Verschleierung oder Falschdarstellung)“. Recht ominös berief sich die Doktrin als Quelle der Bedrohungen auf den „Wunsch einiger Länder, die Interessen Russlands im globalen Informationsraum zu dominieren und zu verletzen“. Putin unterzeichnete die Doktrin am 9. Dezember 2000.

Kreml
Die Politik des Kreml ist in Hinblick auf linientreue Journalisten gnadenlos. Viele Reporter fliehen ins Ausland. Gerade die digitale Überwachung hat die unabhängige und freie Berichterstattung weiter erschwert.

In den frühen 2000ern wurde das Kerngebiet Russlands von einer Serie von Terroranschlägen getroffen, einschließlich einer Geiselnahme im Moskauer Dubrovka-Theater im Oktober 2002. Nachdem unabhängige russische Medien unerschrocken berichteten, schlug der Kreml zurück. Journalistinnen und Journalisten (einschließlich der Autoren) wurden durch Befragungen im Lefortowo-Gefängnis eingeschüchtert, das zum Inlandsgeheimdienst (FSB) – der wichtigsten Behörde für Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung in Russland gehört. Managerinnen und Manager von Fernsehsendern wurden gefeuert und Putin persönlich griff die Medien an, indem er betonte, dass es inakzeptabel sei „Geld mit dem Blut unserer Bürgerinnen und Bürger“ zu verdienen.

Von da an begann die Öffentlichkeit sich langsam, aber entschieden, gegen Journalistinnen und Journalisten zu wenden. Einige berühmte Reporterinnen und Reporter, die sich ihre Reputation in den frühen 1990ern erarbeitet hatten, erwiesen sich als korrupt und bereit, jedwede Art von Stories zu veröffentlichen, wenn sie dafür angemessen bezahlt würden. Der Berufsstand des Journalisten wurde von seinem Podest gestürzt, das er seit den Jahren der Perestroika in den späten 1980ern einnahm. Vielleicht noch augenscheinlicher war jedoch der Umstand, dass Journalistinnen und Journalisten und die freie Presse für viele Menschen in Russland ein Symbol der liberalen Werte waren, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land fluteten. Weite Teile der russischen Gesellschaft waren verbittert und fühlten sich vom Westen verraten, vor allem seit der Wirtschaftskrise in Russland 1998, als der Eindruck entstand, dass Märkte und Demokratie – aus dem Westen importierte Konzepte – nichts außer Chaos hervorbrächten. Die Grundgedanken von Journalismus und freier Presse verloren an Glaubwürdigkeit.

Inzwischen ist die Kommunikation mit einer internationalen Organisation scheinbar schon ausreichend, um des Hochverrates verdächtigt zu werden.

Andrei Soldatov

Journalistinnen und Journalisten der traditionellen Medien verloren nicht nur das Vertrauen der Öffentlichkeit, sondern gleichermaßen ihre Jobs. Innerhalb von sieben Jahren hatten die Autoren Positionen bei fünf Zeitungen inne: die politische Abteilung der Iswestija wurde aufgelöst, der Chefredakteur der Versiya wurde entlassen, Moskowskije Nowosti wurde samt zweier nachfolgender erfolgloser Versuche des Moskowskije-Nowosti-Teams, ein politisches Magazin sowie eine politische Website zu lancieren, geschlossen. Jobs bei der Nowaja Gaseta folgten, jedoch waren sie nicht von langer Dauer. Innerhalb von drei Monaten wurden die Autoren der Publikation von der Nowaja Gaseta entlassen – der letzten russischen Zeitung, die deren Stories drucken wollte. Anfang und Mitte der 2000er Jahre wechselten die Moskauer Zeitungen und Magazine häufig die Besitzerinnen und Besitzer, der Großteil von ihnen endete in den Händen von kremltreuen Oligarchinnen und Oligarchen, die Putin halfen, jedwede feindselige Berichterstattung im Keim zu ersticken. Diese Tendenz blieb von der Öffentlichkeit fast unbemerkt.

Am 6. Oktober 2006 wurde die bekannte russische Investigativ-Journalistin Anna Politkovskaya von Auftragsmördern im Moskauer Stadtzentrum ermordet. Politkovskaya war die prominenteste Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien – einer Region, die die russischen Behörden seit den frühen 2000ern vor Journalistinnen und Journalisten abschotten wollten. Nach Ihrer Ermordung gingen mehr Menschen in Paris auf die Straße, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, als in Moskau. Diejenigen, die dieses Verbrechen in Auftrag gaben, wurden nie gefunden.

Anna Politkovskaya
Verbrechen an Journalisten werden in Russland oft nicht aufgeklärt. So auch der Mord an Anna Politkovskaya, derer hier anlässlich ihres 10. Todestages gedacht wird. Auf Grund der staatlichen Informationspolitik sind Journalisten bei weiten Teilen der Bevölkerung verpöhnt. © picture alliance / dpa | Alexander Shcherbak

Journalismus im Wandel

Im Jahr 2008 waren in Russland nur einige wenige investigative Journalistinnen und Journalisten, etwa sechs bis acht, noch in Moskau tätig. Ziemlich bald jedoch erlebte Moskaueinen neuen Aufschwung des investigativen Journalismus: Kleine Teams, die z.T. aus lediglich einem Dutzend Leuten bestanden, betraten die Bühne. Sie riefen einige digitale Medienplattformen ins Leben, die qualitativ hochwertige Recherchen hervorbrachten. Sie untersuchten Korruption und gruben im Falle hochrangiger Beamtinnen und Beamter tief nach nicht deklarierten Immobilien im Ausland, ihren Offshore-Unternehmen und riesigen Luxusanwesen, die in den modernsten Vorstadtgebieten um Moskau herum sowie anderswo gebaut wurden.

Neue Methoden erfreuten sich dabei immer größerer Beliebtheit: von Datamining in staatlichen Beschaffungs- und Immobiliendatenbanken, über Drohnen, die perfekte Videos der Luxusvillen von Kreml-Bediensteten lieferten, die vor konventionellen Erkundigungen massiv durch hohe Zäune und diverse aggressive Security-Leute abgeschirmt wurden. Diese neuen Methoden halfen Journalistinnen und Journalisten, dem Druck der Regierung standzuhalten. Einige Redaktionen gingen ins Ausland, aber die Journalistinnen und Journalisten arbeiteten weiterhin in Russland. Meduza eröffnete sein Hauptbüro in Riga, Lettland, und bewies, dass es möglich war, russischen Journalismus trotz einer Redaktion außerhalb russischer Grenzen zu produzieren. Einige Journalistinnen und Journalisten, die ihren Job bei traditionellen Medien verloren hatten, starteten ihre eigenen Kanäle mithilfe der Messenger-App Telegram und produzierten – manchmal anonym – einen Strom an unzensierten Informationen, Einblicken und Kommentaren. Diese Telegram-Kanäle wurden sehr bekannt. Telegram ist eine sehr beliebte Plattform in Russland und gibt den Userinnen und Usern die Möglichkeit, über einen eigenen Kanal Nachrichten und Kommentare an Abonnentinnen und Abonnenten zu senden.

Die Autoren dieser Publikation gingen dazu über, Sachbücher über sensible Themen zu schreiben: von Sicherheitsdiensten über digitale Überwachung und durch die Regierung unterstütztes Hacking, hin zu der problematischen Beziehung zwischen dem Kreml und der russischen Emigranten-Community. Die Bücher werden für einen amerikanischen Verlag geschrieben und, wenn sie fertig sind, von einem russischen Verleger abgeholt, der diese dann übersetzen lässt. Der Weg zum inländischen Publikum ist lang, aber erfolgreich – bis heute wurden alle ihre Bücher in Russland veröffentlicht und sind in russischen Buchläden zu finden.

All dies bereitet dem Kreml Unbehagen und verschärfte die Paranoia, die bereits nach der Annexion der Krim und den Sanktionen, die der Westen dem Regime in Moskau auferlegte, in der russischen Bürokratie um sich griff. Journalistinnen und Journalisten wurden erneut zur Zielscheibe und verschiedenste Methoden wurden an ihnen getestet: von eindeutigen Repressionen bis hin zu Cyberangriffen und -überwachung. Erfinderisch wie eh und je nahm der Kreml dabei die Hilfe verschiedener Akteurinnen und Akteure – sowohl staatlicher als auch privatwirtschaftlicher – in Anspruch.