#WahlenBrasilien22
Links fahren mit angezogener Handbremse

Rechtextremer Ex-Militär gegen linken Ex-Gewerkschaftsfunktionär: Selten war das Attribut des Jahrhundertwahlkampfs so berechtigt wie diesmal. Gewonnen hat das Rennen um den Posten des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula. Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro muss seinem Herausforderer am 1. Januar 2023 den Palácio da Alvorada (Palast der Morgenröte), den Sitz des Staats- und Regierungschefs in der Hauptstadt Brasília, räumen. Für Lula ist es die Rückkehr in eine vertraute Umgebung: Schon einmal residierte er dort, von 2003 bis 2011, in seinen ersten beiden Amtszeiten als Präsident.
Die Stichwahl am 30. Oktober war nötig geworden, nachdem in der ersten Runde vier Wochen zuvor keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen errungen hatte. Lula war immerhin schon damals mit 48,4 Prozent als erster durchs Ziel gegangen. Bolsonaro lag bei 43,2 Prozent. In der zweiten, entscheidenden Runde entfielen auf Lula nach amtlichen Angaben 50,9 Prozent, auf Bolsonaro 49,1 Prozent. Es ist dies der knappste bei einer Präsidentschaftswahl in Brasilien jemals verzeichnete Vorsprung. In absoluten Zahlen entspricht er gut zwei Millionen Stimmen.
Leitfigur der politischen Linken weltweit
Die Beteiligung lag ungeachtet der geltenden Wahlpflicht bei 79,4 Prozent, nur unmerklich höher als in der ersten Runde. Der angesichts eines Duells zweier Titanen erwartete Mobilisierungseffekt ist damit ausgeblieben. Auf Lula entfielen im ersten Wahlgang am 2. Oktober gut 57 und bei der Stichwahl vier Wochen später gut sechzig, auf Bolsonaro gut 51 bzw. gut 58 Millionen Stimmen. Dass vor allem Bolsonaro in der zweiten Runde deutlich zulegen konnte, erstaunt umso mehr, als dass die Dritt- und der Viertplatzierte der ersten Runde für die Stichwahl eine Empfehlung zugunsten von Lula ausgesprochen hatten, sowohl Ciro Gomes von der moderat linken Partido Democrático Trabalhista (Demokratische Arbeiterpartei) als auch, zur Überraschung vieler, Simone Tebet vom moderat rechten Movimento Democrático Brasileiro (Demokratische Bewegung Brasiliens).
Lula ging als Spitzenkandidat der von ihm in den 1980er Jahren mitgegründeten Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) ins Rennen. Er ist wahlkampferfahren wie kein zweiter seiner Politikerkollegen im Lande. Mehrfach hatte er sich vergebens um das Präsidentenamt bemüht. 2002 gelang ihm der Sieg, 2006 wurde er für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. Damals wurde er zu einer Leitfigur der politischen Linken weltweit. Seine Popularität erwarb er sich nicht zuletzt durch die Auflage zahlreicher Sozialprogramme. Finanzierbar waren sie vor allem dank der hohen Preisen, die die heimischen Agrarprodukte und Rohstoffe auf den Weltmärkten in den Nullerjahren erzielten. Wenn Brasiliens Verfassung einer dritten Amtszeit in Folge keinen Riegel vorgeschoben hätte, wäre Lula 2010 womöglich nochmal wiedergewählt worden. Ein drittes Mandat ist allerdings erst nach einer Auszeit möglich.
Keine fundierten weltanschaulichen Überzeugungen
Bolsonaro trat für die Partido Liberal (Liberale Partei, PL) an. Dieser Name ist irreführend – liberal sind weder die Partei selbst noch ihr nunmehr gescheiterter Spitzenmann. Dieser hat im Laufe seiner politischen Karriere die Parteizugehörigkeit mehrfach gewechselt. Er folgte dabei in der Regel taktischen Erwägungen, niemals aber fundierten weltanschaulichen Überzeugungen oder klaren programmatisch-inhaltlichen Präferenzen. Bei seiner Wahl 2018 vertrat er noch die Partido Social Liberal (Sozialliberale Partei). Auch dieser Name war mehr nicht als Schall und Rauch.
Auch wenn er sich nunmehr geschlagen geben muss: Vor allem im wirtschaftlich starken, produktiven und wohlhabenderen Süden des Landes, in Bundesstaaten wie São Paulo, Rio de Janeiro oder Rio Grande do Sul, ging Bolsonaro vor Lula ins Ziel. In den ärmeren und strukturschwachen Staaten des Nordwestens, in Bahía oder Rio Grande Do Norte, wo soziale Fragen im Mittelpunkt des Wahlkampfes standen, gewann Lula mit zum Teil deutlichem Vorsprung, was ihm unter dem Strich den Wahlsieg bescherte.

Zurück an der Macht: Brasiliens früherer Präsident Luiz Inacio Lula da Silva hat die Wahl gewonnen.
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Andre PennerBrasilien-typische parteipolitische Häutungen
Durchregieren kann der neue Präsident allerdings nicht. Schon im Wahlkampf hatte sich Lula mit den einschlägigen Forderungen der politischen Linken nach mehr Regulierung, Verstaatlichung oder Umverteilung zurückgehalten. In sein Team geholt hatte er sich Henrique Meirelles, den ehemaligen Chef der Zentralbank und Finanzminister aus dem Kabinett des noch dem traditionellen Konservativismus zuzurechnenden Bolsonaro-Vorgängers Michel Temer. Vizepräsident soll Geraldo Alckmin werden, vormals Gouverneur des bevölkerungsreichen und wirtschaftlich potenten Bundesstaates São Paulo. Er gehört nach einigen Brasilien-typischen parteipolitischen Häutungen mittlerweile der trotz ihres Namens eher zentristischen Partido Socialista Brasileño (Sozialistische Partei Brasiliens) an. Die Flankierung einer dezidiert linken Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik ist weder von Meirelles noch von Alckmin zu erwarten.
Vor einer größeren Herausforderung steht Lula angesichts der Mehrheitsverhältnisse in den beiden Kammern des Kongresses. Auch über deren Zusammensetzung war am 2. Oktober abgestimmt worden. Gewählt wurden alle 513 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 27 der 81 Senatorinnen und Senatoren, die Abgeordneten für vier Jahre, die Senatsmitglieder für acht Jahre – die verbleibenden 54 stellen sich dann in vier Jahren wieder zur Wahl.
„Brasilien, Land der Hoffnung“
Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus gewann Bolsonaros PL 16,5 Prozent bzw. 99 Sitze, 66 mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2018. Lulas PT trat als Teil des Linksbündnisses Brasil da Esperança (sinngemäß: Brasilien, Land der Hoffnung, BE) an. Es erreichte 13,9 Prozent bzw. achtzig Sitze, elf mehr als vor vier Jahren. Die PL bildet fortan die stärkste, BE die zweitstärkste Fraktion. Im Senat kommt die PL auf 13 Sitze, ein Zuwachs von elf. Auch hier stellt die Partei fortan die größte Fraktion. BE konnte sich um drei Sitze auf neun verbessern, bildet allerdings nur die fünftgrößte Fraktion. Gewonnen haben in beiden Häusern auch zwei die Bolsonaro-Kandidatur offiziell unterstützende Parteien: die Progressistas (Progressiven) und Republicanos (Republikaner).
Lula dürfte damit erhebliche Schwierigkeiten haben, seine politischen Projekte in den kommenden Jahren ohne kompromissbedingte Abstriche über die parlamentarischen Hürden und durch das eigene Kabinett zu bekommen. Es wird interessant zu sehen, ob und wie ihm diese Kompromisssuche gelingt.
Nähe zu paranoiden Hasspredigern
Der Ausdruck der Erleichterung, der nach der Verkündigung des amtlichen Ergebnisses weltweit zu vernehmen war, dürfte in vielen Fällen eine Reaktion eher auf die Abwahl Bolsonaros denn auf den Wahlsieg Lulas gewesen sein. Die Niederlage des Amtsinhabers war dabei deutlich knapper als prognostiziert. Gelegen haben mag das unter anderem daran, dass viele seiner Wähler die wirtschaftliche Lage als gut bewerten. Dennoch: Der politischen Kultur im Land hat Bolsonaro schweren Schaden zugefügt, durch seinen Hang zur Demagogie, durch die zwanghafte Idealisierung der Jahre der Militärdiktatur, durch seine von Leichtfertigkeit geprägte Covid-Politik, durch seine habituelle und inhaltliche Orientierung an Donald Trump und seine Nähe zu christlichen, vor allem evangelikalen, paranoiden Hasspredigern. Für aufgeklärte Zeitgenossen ist sein politisches Aus deshalb eine gute Nachricht.
Zu einem Waisenknaben macht Lula das alles natürlich noch nicht. Aus seinen Sympathien für die sozialistischen Diktaturen in Kuba, Nicaragua und Venezuela hat er nie einen Hehl gemacht. Die politische Linke in Lateinamerika ihrerseits frohlockt darüber, dass nach Peru, Chile und Kolumbien mit Brasilien ein weiteres Land auf dem Kontinent innerhalb eines guten Jahres das weltanschauliche Lager gewechselt hat. Für die liberalen Kräfte in der Region dürfte sich die an Stärke gewinnende Phalanx linksregierter Staaten noch als Herausforderung erweisen.
Methoden und Erkenntnisse der Klimaforschung verunglimpft
Das aus internationaler Sicht wahrscheinlich interessanteste mit Brasilien verbundene Thema ist der Umgang der Politik mit den Regenwäldern. Lula hatte 2004, zu Beginn seiner Präsidentschaft, mit über zwei Millionen Hektar bzw. 20.000 Quadratkilometern eine sehr hohe Abholzungsrate zu verantworten. Im Laufe der Folgejahre hat er sie allerdings mehr als halbiert. Bolsonaro hatte 2018 zwei Rekordwerte von seinem Vorgänger Michel Temer geerbt – 2016 waren es knapp drei Millionen Hektar. Zunächst ging der Abbau signifikant zurück, dann aber stieg er wieder leicht an, auf rund 1,5 Millionen Hektar 2021.
Abgesehen von seiner Ungerührtheit gegenüber dem CO2-Speicher Regenwald hat Bolsonaro in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Mechanismen des Umwelt- und Klimaschutzes ausgehebelt und die Methoden und Erkenntnisse der Klimaforschung systematisch verunglimpft. Lula will vieles davon rückgängig machen. Mit Blick auf die Bilanz seiner ersten beiden Amtszeiten hat er angekündigt, umweltbelastende wirtschaftliche Aktivitäten zu unterbinden.

Regenwald im Amazonas-Gebiet.
© Foto de Ivars Utināns en UnsplashGrößtes Hindernis ab Januar Geschichte
Auch in die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen Europäischer Union und den Mercosur-Staaten könnte bald wieder Bewegung kommen. Derzeit liegt es auf Eis, nicht zuletzt wegen des Konfliktes zwischen Brüssel und Brasília über die Abholzung der Amazonas-Wälder. Paraguay und Uruguay machen sich schon lange stark für das Abkommen. Beide würden voraussichtlich am stärksten von einem Abschluss profitieren. In Argentinien schottet man sich wirtschaftlich und handelstechnisch derzeit lieber ab. Da in Brasilien mit Bolsonaro das aus europäischer Sicht größte Hindernis ab Januar Geschichte ist, könnte der Kongress in Brasília Lula bald dazu drängen, sich innerhalb des Mercosur-Raums entsprechend zu positionieren und den Dialog mit der EU wiederzubeleben.
Zunächst aber muss die Amtsübergabe erfolgen. In seiner Rede bei der Siegesfeier seiner Partei am Abend der Stichwahl auf einer Prachtstraße in São Paolo schlug Lula versöhnliche Töne an: Es gebe nicht zwei Länder; man sei ein Brasilien, ein Volk, eine große Nation. Seine Niederlage hat Bolsonaro bislang nur verklausuliert anerkannt, und das auch erst zwei Tage nach dem Urnengang. Um des Friedens willen bleibt zu hoffen, dass die Machtübergabe in den kommenden Wochen geordnete und zivilisiert erfolgt.