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Europa
5 Jahre Sorbonne-Rede – was bleibt von Macrons Ambitionen, die EU neu zu gründen?

Sorbonne Speech
© Getty Images

Mit seiner Sorbonne-Rede wollte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron eine öffentliche Debatte über Europas Zukunft anstoßen und einen Fahrplan zu entwickeln, damit Europa nicht mehr nur in Krisenzeiten vorwärtskommt. Mit der Covid-19 Pandemie und Russlands Krieg in der Ukraine hat sich die Europäische Union in der Tat in den letzten fünf Jahren stark weiterentwickelt, paradoxerweise jedoch eben genau aufgrund dieser zweier Krisen.

Die französische EU-Ratspräsidentschaft der ersten sechs Monate des Jahres ist gerade zu Ende gegangen, Emmanuel Macron wurde für weitere fünf Jahre wiedergewählt, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich in den letzten Wochen sowohl in der Presse als vor allem auch in seiner Prager Rede zur Zukunft Europas geäußert hat, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat gerade ihre dritte Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten – was bleibt 5 Jahre nach der Sorbonne-Rede noch zu tun in der Europapolitik ?

Europäische Souveränität und ein Europa, das schützt: französische Konzepte auf dem Vormarsch

Emmanuel Macrons Rede, die er genau vor fünf Jahren am 26. September 2017 im Auditorium der Sorbonne kurz nach der Athener Rede am Fuße der Akropolis hielt, zeichnete sich durch ihre klaren Konzepte, kühnen Vorschläge und ihren direkten Stil aus. Die europäische Souveränität machte den Kern seiner Vision aus. Sie führte zu zahlreichen semantischen und verfassungsrechtlichen Debatten, auch unter Wissenschaftlern und Akademikern. Selbst Emmanuel Macron passte aus pragmatischen Gründen seinen Sprachgebrauch an und verwendete fortan eher den Begriff der strategischen Autonomie, der sich allmählich durchsetzte, da er konsensfähiger war. Strategische Autonomie war das Schlüsselwort, das sich gut zur Covid-Krise passte, schließlich offenbarte diese die Abhängigkeit von medizinischem Material und Impfstoffen. Nach der russischen Invasion in der Ukraine erhielt die Verwendung des Begriffs der europäischen Souveränität jedoch bereits erneut Auftrieb. Nach der Tagung des Europäischen Rates Ende März in Versailles beanspruchte Emmanuel Macron dann auch die Relevanz des Begriffs: „die europäische Souveränität, wenngleich manche sie vor wenigen Jahren noch als Schlagwort, vielleicht sogar als französische Marotte abgetan haben, [wird] heute übereinstimmend als unerlässlich verstanden“. In seiner Rede an der Karls-Universität in Prag Ende August, die allgemein als die lang ersehnte deutsche "Antwort" auf die Sorbonne-Rede gilt, wollte Olaf Scholz diese Debatte beenden, indem er den Begriff der europäischen Souveränität aufgriff und der französischen Definition annäherte: „Mir geht es dabei nicht um Semantik. Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zusammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen.“ Für Deutschland werden die Herausforderungen der Zukunft darin bestehen, sich insbesondere in der Verteidigungspolitik zu engagieren, indem es geplante Mittel und Ressourcen auch wirklich bereitstellt. Für Frankreich bleibt abzuwarten, ob seine europapolitischen Ambitionen auch in die Tat umgesetzt werden, insbesondere wenn es um Bereiche wie die Außenpolitik geht, in denen das Primat immer noch vorherrscht. Wäre Frankreich wirklich bereit, seine nationale Souveränität zugunsten von mehr europäischer Souveränität aufzugeben, wenn das Einstimmigkeitsprinzip, das für die Entscheidungsfindung im Rat immer noch erforderlich ist, im Bereich der Außenpolitik fallen gelassen würde, wie Olaf Scholz es vorgeschlagen hat?

Das zweite europapolitische Konzept, das Macron in seiner Sorbonne-Rede aufgreift besteht in einem "Europa, das schützt". Unter den europäischen Partnern findet dieses Konzept nur gemischt Anklang, auch wenn sich die Diskurse und Paradigmen im Laufe der Zeit angenähert zu haben scheinen.  Vor allem die nordischen Länder und die liberaleren Mitgliedstaaten, einschließlich einiger Partnerparteien im Europäischen Parlament, sehen in dem Konzept eine Form des französischen Protektionismus. Mit einem schützenden Europa wollte Macron dem Euroskeptizismus entgegenwirken, der durch die Wahrnehmung genährt wurde, dass Europa das französische Sozialmodell bedrohen würde. Neben der Sozialpolitik erweiterte Macron den Schutz-Begriff auf die Migrationspolitik (Grenzschutz), auf den um Kampf gegen den Klimawandel bis hin zu Gesundheit, Digitalisierung, Sozialem und fairen Regeln für Freihandel, der auf gegenseitigen Standards beruht. Bundeskanzler Olaf Scholz folgt Macrons Ansatz, sicherlich nicht zuletzt auch aufgrund seiner sozialdemokratischen Wählerschaft. So hob er in seiner Prager Rede etwa die Vorzüge des SURE-Programms hervor und trat für einen besseren Arbeitnehmerschutz ein. In ihrer Rede zur Lage der Union vom 14. September 2022 bekräftigte auch Ursula von der Leyen dass EU-Politik nicht nur die auf die Schaffung und den Erhalt des Binnenmarktes ausgerichtet sein sollte, sondern sich der sozialen Markwirtschaft verpflichten sollte.

Sie setzte sich daher für Maßnahmen wie ein Europäisches Jahr der Ausbildung ein und betonte ebenfalls die Bedeutung des SURE-Programms und des Konjunkturprogramms NextGenerationEU. Das Konzept eines schützenden Europas, scheint sich zwar peu à peu durchgesetzt zu haben, einige Befürchtungen insbesondere aus liberaler Sicht scheinen sich mit der Zeit aber auch bestätigt zu haben. So hat sich Frankreich während seiner EU-Ratspräsidentschaft 2022 nur mit begrenztem Enthusiasmus an der Verhandlung weiterer Freihandelsabkommen beteiligt.

Vereint durch europäische Werte und Rechtsstaatlichkeit

Für Emmanuel Macron ist ein schützendes Europa, zugleich auch eines, das Freiheit, europäische Werte und Rechtsstaatlichkeit garantiert. Im Anschluss an seine Sorbonne-Rede und im Kontext einer zunehmend populistischen Stimmung in Frankreich und Europa bestritt der französische Präsident den Europawahlkampf 2019 und stellte die Weichen für die bis 2024 anhaltende europäische Legislativperiode. Die Europäische Union basiere seiner Meinung nach auf den zwei Säulen der demokratischen Werte, der Rechtsstaatlichkeit und dem funktionierenden Binnenmarkt. Aber diese Idealvorstellung scheitert häufig an der Realität, schließlich brechen mit Ungarn und Polen zwei wichtige Staaten in der EU rechtsstaatliche Prinzipien, versuchen Autokraten ihren Einfluss in der EU auszubauen und Russland die EU zu destabilisieren, indem es einen Krieg vor seiner Haustür führt. Die Europäische Union kann nur mit äußerster Entschlossenheit auf diese internen und externen Angriffe reagieren. Die Europäische Kommission, die gerade den Konditionalitätsmechanismus für die Auszahlung der NextGenerationEU-Fonds aktiviert hat, sollte sich angesichts dieser Herausforderungen nicht auf falsche Versprechungen von Politikern wie Victor Orbán einlassen. Bundeskanzler Olaf Scholz tritt ebenfalls sehr entschlossen in der Werte-Frage auf, die er in seiner Prager Rede mit einem eigenen Unterpunkt würdigte. Er unterstützt den Konditionalitätsmechanismus und schlug mit der Schaffung eines neuen Mechanismus sogar vor, noch weiter zu gehen der Kommission zu ermöglichen, Vertragsverletzungsverfahren leichter und entschlossener einzuleiten. Ursula von der Leyen legte in ihrer Rede einen Schwerpunkt auf den Kampf der "Autokratie gegen Demokratie". Die ausländische Einmischung und Korruption müsse stärker bekämpft und die Unabhängigkeit der Justiz stärker gewahrt werden. Insbesondere forderte die Kommissionspräsidentin, ausländische Investitionen stärker zu kontrollieren, um die Wirtschaft der EU und ihre Werte besser zu schützen. In diesem Zusammenhang schlug sie das europäische Paket zur Verteidigung der Demokratie vor, da sich der Aktionsplan für die europäische Demokratie als unzureichend erwiesen hat.

Steuern, Finanz-, und Migrationspolitik – ein Fass ohne Boden?

Die europapolitische Vision, die Macron in seiner Sorbonne-Rede dargelegte, stieß über die Zeit mehr und mehr auf Akzeptanz seitens der anderen Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen. Bei den von Macron skizzierten sechs ‚Schlüsseln‘ der europäischen Souveränität (Sicherheit, Migration, Außenpolitik, Übergang zur grünen Wirtschaft, Digital-, Wirtschafts-, Industrie- und Währungspolitik) konnten bislang jedoch in den zwei großen Politikbereichen der Migrations- und Finanzpolitik keine wirklichen Erfolge erzielt werden. Olaf Scholz nutzte seinerseits bei seiner Prager Rede die Gelegenheit, diese beiden Politikfelder zu thematisieren. So forderte er eine entschiedene Haltung gegenüber irregulärer Einwanderung, um die Integration regulärer Einwanderer zu verbessern. Wie Macron schlägt Scholz eine faire Partnerschaft mit den Herkunfts- und Transitländern, eine Stärkung der europäischen Außengrenzen zur Gewährleistung des Schengen-Raums und eine wirksame und umfassende Asylpolitik vor. Macron sprach sich sogar für eine echte europäische Asylbehörde aus, musste sich aber mit der neuen Asylagentur der EU mit weniger Kompetenzen zufrieden geben. Olaf Scholz würdigte den unter der französischen Ratspräsidentschaft verfolgten graduellen Ansatz und die neue politische Steuerung des Schengen-Raums zur Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems. Kommissionspräsidentin von der Leyen betonte jedoch nicht ohne einen Hauch von Pessimismus, dass der politische Wille zur Umsetzung des Migrations- und Asylpakts noch fehle. In der Migrationspolitik sind sich Frankreich und Deutschland trotz ihrer Unterschiede, beispielsweise in der Arbeitsmigration, im Prinzip einig, aber beide Länder sind weitgehend von ihren europäischen Partnern abhängig, die es noch gilt, davon zu überzeugen, sich solidarisch zu verhalten. Dies dürfte mit der neuen rechten bis und rechtsextremen italienischen Regierung noch schwieriger werden.

Eine weitere große ungelöste Baustelle auf europäischer Ebene ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, den der ehemalige Finanzminister Olaf Scholz ebenfalls in seiner Prager Rede erwähnte. Mit dem 750-Milliarden Euro Wiederaufbauplan der EU erreichte Emmanuel Macron zusammen mit den Staats- und Regierungschefs Spaniens und Italiens einen echten Paradigmenwechsel, indem es ihnen gelang, Deutschland unter Angela Merkel und die Gruppe der nördlichen Länder wie die Niederlande und Österreich zur gemeinsamen Finanzierung durch die EU gedrängt wurden. Zudem wurden die sogenannten Maastricht-Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts ausgesetzt, um flexibler mit der Covid 19-Krise umgehen zu können: „Die Mitgliedstaaten sollten mehr Flexibilität beim Schuldenabbau haben. Aber es sollte mehr Rechenschaftspflicht geben, wenn es um das Erreichen der von uns vereinbarten Ziele geht. Es sollte einfachere Regelungen geben, die alle befolgen können.“ Die Vorschläge von Ursula von der Leyen, die nun weiter im Oktober konkretisiert werden sollen, scheinen dabei den Vorstellungen von Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner größtenteils zu entsprechen. Der Kommissionspräsident plädiert dafür, "den Geist von Maastricht wiederzuentdecken, [weil] Stabilität und Wachstum nur Hand in Hand gehen können." So plädierte Olaf Scholz dafür, den Schuldenabbau der Länder mit verbindlichen, wachstumsorientierten Zielen zu verbinden und dabei politisch akzeptable Lösungen zu finden. Frankreich, allen voran sein Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire, der ebenfalls einen wachstumsorientierten Ansatz verfolgt, wird sich in diesem umstrittenen Politikfeld arrangieren müssen. Angesichts der Gelbwesten-Bewegung muss Frankreich einen politischen Kompromiss mit der Kommission und seinen europäischen Partnern finden, ohne dabei die politische Situation im eigenen Land außer Acht zu lassen.

Welche Reformen für die „Neugründung“ Europas

Dank der französischen EU-Ratspräsidentschaft wurden mehrere der in der Sorbonne-Rede angedachten Projekte in die Tat umgesetzt. Emmanuel Macron hatet jedoch selbst darauf hingewiesen, dass die Umgestaltung der EU mindestens 10 Jahre beanspruchen würde, was zwei Amtszeiten für einen französischen Präsidenten gleichkommt.

Im Jahr 2017 schlug er nichts Geringeres als eine Neugründung Europas vor und lud die Mitgliedstaaten ein, einer entsprechenden Implementierungs-Gruppe beizutreten, die die notwendigen Schritte ermitteln sollte, um Europa handlungsfähiger, schneller und effizienter zu machen. Diese Gruppe erblickte jedoch niemals das Licht. Dennoch werden derzeit zwei wichtige Reformpläne aus Macrons Sorbonne-Rede diskutiert: die Einführung transnationaler Listen für die Europawahlen und die Reduzierung der Zahl der Kommissare auf 15 Kommissare. Dies würde bedeuten, dass sogar die Gründungsländer wie Frankreich mit gutem Beispiel vorangehen und auf einen Kommissar verzichten müssten. Doch Olaf Scholz hielt seine Prager Rede mit weit weniger Enthusiasmus als dies Macron zu tun pflegt, und sprach vielmehr davon, die Europäische Union zu reformieren, nicht neu zu gründen. Olaf Scholz' Ideen zur Reform der europäischen Institutionen scheinen dennoch etwas konkreter und greifbarer zu sein, dafür aber weniger visionär. Auch der deutsche Bundeskanzler strebt eine effiziente EU-Governance im Hinblick auf eine mögliche neue Erweiterungsrunde an. Im Einklang mit Angela Merkel verfolgt er den deutschen Ansatz des Föderalismus und erinnert daran, dass Deutschland in der Mitte Europas liegt, während es sich nach Osten hin erweitert. Er lehnt ein „Europa der exklusiven Clubs oder Direktorien“ ab, während Emmanuel Macron konstatierte, dass „Europa bereits mit mehreren Geschwindigkeiten voran [geht]. Wir sollten keine Angst haben, dies auch zu sagen und zu wollen! Weil diejenigen, die schneller vorangehen, es nicht mehr wagen, voranzugehen, sind die Ambitionen als solche verblasst.“ Olaf Scholz sprach sich dennoch für „Koalitionen der Willigen“ aus, um die politischen Entscheidungsprozesse flexibler zu gestalten. In der Frage der Repräsentativität ging er jedoch nicht auf die Idee der transnationalen Listen ein, die bereits vom Europäischen Parlament verabschiedet wurden und nun noch vom Rat genehmigt werden müssen. Unter Hinweis auf die Bedeutung kleinerer Mitgliedstaaten lehnte Scholz eine Verringerung der Zahl der Kommissare ab und schlug vor, ein neues System der Aufgabenteilung der Ressorts in Binomen einzuführen. Zudem plädierte er dafür, insbesondere in der gemeinsamen Außen- und Finanzpolitik schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Angesichts des anhaltenden Widerwillens der kleinen Mitgliedstaaten, ihre Macht abzugeben, könnten sich diese vielmehr konstruktiv enthalten, um einem Kompromiss nicht im Wege zu stehen. Was das Europäische Parlament betrifft, so scheint es dem Bundeskanzler angemessener, die Zahl der Abgeordneten trotz der Integration neuer Mitgliedstaaten beizubehalten aber dabei die die Repräsentativität jedes einzelnen Abgeordneten neu zu berechnen – nicht zu vergessen, dass dies für Deutschland von Vorteil wäre. Ursula von der Leyen hat die Position der Kommission vorerst noch nicht festgelegt. Stattdessen schlug sie vor, vor einer möglichen Erweiterung einen Europäischen Konvent einzuberufen, um die Funktionsweise der Europäischen Union zu verbessern. Die Kommission kommt damit einer Forderung des Europäischen Parlaments nach, aber weder der Geltungsbereich, noch die Frist, noch die Methode dieses Konvents, der einen großen Schritt für die europäische Integration darstellen könnte, sind bisher festgelegt worden. Um die Zurückhaltung im Europäischen Rat zu überwinden, rief Emmanuel Macron zunächst nationale Bürgerkonvente und dann die Konferenz über die Zukunft Europas ins Leben. Unter französischer Ratspräsidentschaft konnten lediglich die endgültigen Schlussfolgerungen der Konferenz gebilligt werden, aber kein Follow-up initiiert werden. Der Bundeskanzler und die Kommissionspräsidentin erwähnten den Konvent zwar, aber ohne größere institutionelle Reformen zu fordern. In einem Schreiben an das EU-Parlament und die tschechische Ratspräsidentschaft übermittelte Ursula von der Leyen einige ihrer Vorschläge, die jedoch keine Vertragsänderungen nach sich ziehen würden. Im Moment scheint der status quo der Diskussionen hinter den ursprünglichen französischen Ambitionen zurückzubleiben.

Während seiner Rede an der Sorbonne erklärte Emmanuel Macron, dass die Zeit, in der Frankreich proaktiv Vorschläge für die Europapolitik macht, wieder da sei, aber dass die Zeit, in der Frankreich beansprucht, alleine für Europa zu entscheiden, vorbei sei. Dennoch scheinen Frankreichs Partner weiterhin darauf bedacht zu sein, französische Vorschläge genau unter die Lupe zu nehmen, wie etwa die gemeinsame Erklärung von 13 EU-Ländern als Reaktion auf den Vorschlag zur Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft während Macrons Rede vor dem Europäischen Parlament am 9. Mai zeigte. Sowohl der Olaf Scholz als auch Ursula von der Leyen unterstützten diese Idee, wobei Scholz mahnte, keine Alleingänge zu machen. Nur durch ein resilienteres Deutschland innerhalb eines souveränen Europas könnten nach ihm die Befürchtungen, dass Frankreich seine Interessen über Bande im Rahmen seiner Europapolitik durchsetzt, abgewandt werden.

Eine neue politische Organisation zur Vollendung von Macrons europäischem Projekt

In der Sorbonne-Rede wurden zwei Zeithorizonte für die von Macron geforderte „Neugründung Europas“ genannt: 2024, das Ende der aktuellen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments und 2027, zehn Jahre bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit. Um seine europapolitischen Vorstellungen nach seiner Wiederwahl weiterzuverfolgen hat der französische Staatspräsident den Vorsitzenden der Renew Europe-Fraktion im Europaparlament, Stéphane Séjourné, mit der Aufgabe betraut, seine ehemalige En Marche-Partei, die nun in „Renaissance“ umbenannt wurde, neu zu organisieren und zu leiten. Sie soll einem doppelten Motto folgen: französisch und zugleich europäisch sein. Europa steht an zweiter Stelle in der Liste der 12 genannten Werte der neuen Partei. Im 12-köpfigen Führungsteam findet sich mit Clément Beaune ein weiterer ehemaliger Europaexperte. Es sieht also so ganz aus, als ob die nationalen und europäische Ebene in der neuen Partei eng miteinander verfochten sein werden.

Diese Verflechtungen sind angesichts einer neuen Welle aufstrebender Populisten und Extremisten wie in Schweden oder Italien und dem Krieg in der Ukraine auch dringend notwendig. Wie wird sich die Situation innerhalb der EU, insbesondere in Polen und Ungarn im Hinblick auf die bevorstehenden Europawahlen entwickeln, wenn weitere Sanktionen verschärft werden? Inwieweit werden die Mitgliedsparteien von Renew Europe in der Lage sein, gemeinsam eine echte europäische Kampagne zu führen, die über nationale Debatten hinausgeht? Wird die öffentliche Unterstützung für die Ukraine langfristig anhalten, trotz aller negativen Auswirkungen auf die Kaufkraft? Dies scheinen die nächsten Herausforderungen für Emmanuel Macron und seine Entourage zu sein, denn je nach dem Ergebnis der nächsten Europawahlen wird der europäische Elan entweder gebremst oder gestärkt. 2024 wird Macron dann noch zwei Jahre Zeit haben, um sein europäisches Projekt zu vollenden und den Beweis anzutreten, dass die Sorbonne-Rede der europäischen Integration einen wirklichen und dauerhaft neuen Schwung verliehen hat.

Éric Pestel ist Generalsekretär des Vereins Association pour la Renaissance Européenne Paris. Er ist Ko-Autor der Studie “Vive l’Europe – Französische Europapolitik unter Emmanuel Macron“.

Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten. Sie ist Ko-Autorin der Studie “Vive l’Europe – Französische Europapolitik unter Emmanuel Macron