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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Jubiläum
30 Jahre Bonn-Berlin-Beschluss – Vollendung der Deutschen Einheit?

Vor 30 Jahren entschied sich der Deutsche Bundestag für Berlin statt Bonn als künftigen Sitz von Parlament und Regierung – nach langer Debatte und mit knapper Mehrheit.
Bundestag
Der deutsche Bundestag in Berlin

War der 20. Juni 1991, der Tag der Entscheidung zwischen Berlin und Bonn als künftigem Parlaments- und Regierungssitz des vereinten Deutschlands, eine Sternstunde des Bundestags? Darüber lässt sich heute noch streiten. Zu knapp fiel das Ergebnis aus: 338 von 660 Stimmen für den Antrag „Vollendung der Deutschen Einheit“, der den Wechsel nach Berlin vorsah. Und zu unterschiedlich das Niveau der Argumentation in der fast zwölfstündigen Debatte, deren stenografischer Bericht fast 200 Seiten Text füllt. Die Einlassungen reichten vom weitsichtig Staatstragenden bis zum fragwürdigsten Provinzialismus.

In jedem Fall gab es einige großartige Höhepunkte, allen voran die Rede des damaligen Bundesinnenministers und Bundestagsabgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble, die nach verbreitetem Urteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer maßgeblichen Einfluss auf den Sieg Berlins über Bonn hatte. Er appellierte eindringlich und leidenschaftlich an die Kolleginnen und Kollegen, mit dem Schritt von Bonn nach Berlin die Deutsche Einheit zu vollenden. Er tat es als Politiker aus dem badischen Offenburg im äußersten Südwesten der Republik, also ohne jeden Heimatbezug zum preußischen Berlin; und er tat es als Mitglied der Unionsfraktion, die von allen Fraktionen als Erbe Adenauers vermeintlich am stärksten dem Verbleib in Bonn zuneigte. Er tat es schließlich als eine Persönlichkeit, die wenige Monate zuvor aufgrund eines Attentats querschnittsgelähmt im Rollstuhl saß und damit die Härten, Opfer und Wunden der Politik für die Deutsche Einheit in sich trug.

Als nach Schäubles Rede Willy Brandt auf ihn zutrat und ihm demonstrativ dankte, war dies wie ein Ritterschlag: Der ehemalige Regierende Bürgermeister Westberlins und spätere Bundeskanzler erwies Wolfgang Schäuble die Ehre. „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ – Brandts berühmter Satz schwang in diesem Dank mit. Und zusätzlich vielleicht auch ein schlechtes Gewissen und mulmiges Gefühl, denn Brandts Rede zuvor war keineswegs glücklich ausgefallen, als er davor warnte, mit einem Votum für Bonn zu kurz zu springen, was nichts anderes bedeutete, als dass er die Endgültigkeit eines solchen Beschlusses anzweifelte.

Neben dem grandiosen Höhepunkt von Schäubles Rede fiel die Debatte über weite Strecken eher quälend ausfiel. In ihr zeigte sich ungewollt, wie gespalten Deutschland noch war – und wie viel historische Angst noch in den Köpfen und Herzen vor allem der westdeutschen Abgeordneten steckte, den Sprung ins preußische Berlin zu wagen. Jene Mischung aus legitimer regionaler Interessenvertretung und fast nostalgischer Liebe zur guten alten Bundesrepublik hatte zwar etwas Rührendes, ließ aber doch Zweifel aufkommen, wie reif die politische Elite dieser Nation für die großen Herausforderungen der Zukunft wirklich war. Interessant dabei die Verteilung der Stimmen nach den traditionellen politischen und weltanschaulichen Familien. So votierten in der FDP-Fraktion 67,1 Prozent für Berlin, in der CDU/CSU-Fraktion 48,4 Prozent, in der SPD-Fraktion 46,6 Prozent. Es gab also bei den klassischen Parteien der alten Bundesrepublik nur bei den Liberalen eine klare Mehrheit für Berlin, was damit zusammenhängen mag, dass ihre Partei die tiefsten Wurzeln in der Geschichte des vereinten Deutschland hat, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Den führenden Persönlichkeiten der Partei wie Hans-Dietrich Genscher, Burkhard Hirsch, Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Mischnick und Hermann Otto Solms waren diese Wurzeln immer bewusst und wurden auch zu Zeiten der Deutschen Teilung politisch und menschlich stets wachgehalten.

Bemerkenswert bleibt, dass die Mehrheit für Berlin rein rechnerisch nur durch zwei weitere und stark ostzentrierte Fraktionen zustande kam. So stimmte die PDS als Nachfolgepartei der SED mit 94,5 % für Berlin. Und auch vier von sechs Parlamentarier von Bündnis90, bestehend ausnahmslos aus ostdeutschen Bürgerrechtlern, votierten für Berlin. Dies bleibt ein weiteres Indiz dafür, wie tief gespalten die Nation damals noch war.

Jedenfalls war das Ergebnis politisch und psychologisch von ungeheurer Bedeutung. Betrachtet man im Rückblick die vielen Schwierigkeiten und Stolpersteine der Deutschen Einheit, die noch folgten, so wäre eine Entscheidung für Bonn im Osten der Republik als ein Schlag ins Gesicht empfunden worden. Und zu Recht, denn zur Zeit der Teilung gab es stets ein politisches Bekenntnis zu Berlin als – nur vorübergehend verhinderter – Hauptstadt und eigentlichem Sitz der Politik. Wären diesem Bekenntnis keine Taten gefolgt, hätte dies die Glaubwürdigkeit des Projekts „Deutsche Einheit“ und auch des „Aufbau Ost“ maßgeblich gefährdet.

Es hätte übrigens auch im Ausland merkwürdige Reaktionen provoziert. In London, Paris, Washington und Moskau wäre eine Entscheidung für Bonn eher als eine Art „falsche Bescheidenheit“ gedeutet worden. Keineswegs also eine vertrauensbildende Maßnahme, sondern eher das Gegenteil: eine Art Versteckspiel des wiedervereinigten Deutschlands vor der eigenen Verantwortung für die neu gewonnene politische und wirtschaftliche Macht.

Der Bundestag traf also am 20. Juni 1991 die richtige Entscheidung. Dass dabei die Berliner Republik eine andere würde als die Bonner Republik, war unvermeidbar. Und niemand weiß, ob die Bonner Republik – gäbe es sie noch – jene geblieben wäre, die den Westdeutschen so ans Herz gewachsen war. Der politische und mediale Wind weht zweifellos in Berlin schärfer, als er dies früher in Bonn tat. Aber nicht nur der Ort deutscher Politik hat sich verändert, sondern auch die Zeit – und mit ihr die globalen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Und dafür ist das raue Berlin vielleicht doch gar kein so schlechter Platz.