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Vorwahlbericht
Israel eins bis vier: 1 Patt, 2 Jahre, 3 Lockdowns, 4 Wahlen

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© Hanay, Israel,  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons

Am Abend des 22. Dezember 2020 wurde die Knesset (das israelische Parlament) aufgelöst. Damit stand nur neun Monate nach der letzten Wahl der nächste Wahltermin am 23. März 2021 fest. Somit findet innerhalb von nur zwei Jahren schon die vierte Wahlrunde statt. Nach jüngsten Umfragen ist sogar eine fünfte Wahl in Kürze nicht auszuschließen.

Wie ist es dazu gekommen?

Die politische Krise in Israel begann mit einer Pattsituation wegen einer strafrechtlichen Anklage gegen Premier Benjamin Netanjahu. Der Premier wurde im Jahr 2019 von der Generalstaatsanwaltschaft offiziell wegen Vertrauensmissbrauch, der Annahme von Bestechungsgeldern und Unterschlagung angeklagt. Aber Netanjahu weigerte sich zurückzutreten mit der Behauptung, dass die Anschuldigungen gefälscht seien um ihn “undemokratisch” aus dem Amt zu jagen. Seine Reaktion wurde in den Medien schwer kritisiert und in der Öffentlichkeit wuchs eine Anti-Netanjahu-Stimmung. Umfragewerte zeigten zum ersten Mal seit Jahren, dass er nicht dazu in der Lage schien die 61 Sitze in der Knesset sammeln zu können, um eine Regierung zu bilden.

Überraschenderweise war es jedoch nicht die landesweite Kritik, die zu einer ersten Wahlrunde im Jahr 2019 führte, sondern eine Meinungsverschiedenheit in der Regierung über Sicherheitsfragen und ein neues Wehrpflicht-Gesetz. Seine konservative Likud-Partei stützte Netanjahu, aber der als “Falke” geltende Verteidigungsminister Avigdor Liberman verließ die Regierung unter dem Vorwurf tatenlos auf Raketenangriffe im Süden des Landes geblieben zu sein und das Wehrpflicht-Gesetz auf Wunsch der Ultra-Orthodoxen Parteien aufgeweicht zu haben. Sein Rücktritt führte zur Auflösung der Knesset und der ersten Neuwahl im April 2019.

Die Korruptionsanklage gegen Netanjahu wurde zum zentralen Thema der Wahl, bei der sich ein Wahlbündnis gegen die bis dahin dominierende Likud-Partei formierte. Die neue Partei-Koalition nannte sich “Blau-Weiß” und wurde von den Oppositionspolitikern Benny Gantz und Yair Lapid geführt. Diese neue politische Kraft wurde zum Anführer der neuen Anti-Netanyahu-Lagers zusammen mit der Israelischen Linken und Liberman’s rechts-säkularen Yisrael Beitenu (“Unser Haus Israel”) Partei.

Der erste Wahlgang endete mit einem Unentschieden mit jeweils 60 Stimmen auf beiden Seiten, bei denen beide Blöcke mit ihrer Kompromisslosigkeit eine politische Pattsituation erzeugten. Der Patt setzte sich bei den Wahlen im September 2019 und März 2020 fort. Weder Netanjahu noch Gantz konnten eine Regierung bilden. Mit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie stieg der öffentliche Druck auf die beiden Parteiführer eine Einheitsregierung zu bilden. In einem detaillierten Koalitionsvertrag wurde beiden politischen Führern Vetorechte eingeräumt und eine Rotation für den Regierungschef festgelegt.

Die Einheitsregierung und die Bildung neuer Lager

Der Koalitionsvertrag wurde von vielen im Anti-Netanjahu-Lager scharf abgelehnt, nachdem sie sich darauf eingeschworen hatten in keine Regierung mit Netanjahu einzutreten. Sie reklamierten, dass sich eine korrupte Führungsperson nur so lange an ihn halten würde, wie es ihm selbst nutze. Diese Anti-Netanjahu Abweichler verließen “Blau-Weiß” und sammelten sich in der liberal-zentristischen Jesch-Atid (“Es gibt eine Zukunft!”) Partei unter Yair Lapid. So verwischte das klare Recht-Links Schema, nachdem beide in Regierung wie Opposition zu finden waren. Damit wirkte das Anti-Netanjahu-Lager zeitweise stärker als zuvor.

Trotz der vorgeblichen Priorität der Bekämpfung von Covid-19 krankte die Einheitsregierung an internen Machtkämpfen, Versuchen Fehler dem politischen Gegner in der eigenen Regierung anzulasten und Erfolge allein zu verbuchen. So wuchs die schon existierende öffentliche Empörung. An den Wochenenden sammelten sich Tausende vor der Residenz des Premiers um zu protestieren. Jedoch war es wieder nicht der öffentliche Druck, sondern interne Regierungsstreitigkeiten, die Neuwahlen auslösten.

Der Koalitionsvertrag hatte eine verhängnisvolle Schwachstelle, denn er legte automatische Neuwahlen für den Fall fest, dass man sich nicht auf einen Staatshaushalt einigen könnte. Das erlaubte Netanjahu seine Position nicht aufgeben zu müssen, indem er bis Ende 2020 verhinderte den Haushalt zu verabschieden. Am 22. Dezember 2020 war somit offiziell klar, dass Israel in einen vierten Wahlgang gehen würde – ohne einen verabschiedeten Haushalt und während Covid-19 weiter tobte.

So verbreitete sich das Anti-Netanjahu Lager tiefer in der israelischen Rechten. Abweichler geführt von Gideon Saar, Netanjahu’s stärksten Herausforder aus der eigenen Partei, verließen den Likud und schlossen sich dem Anti-Netanjahu-Lager an. Die Entwicklung störte Netanjahus Narrativ eines Kampfes von Links gegen Rechts, was ihm und dem Likud in den Umfragen schadete. In den vergangenen Wochen, haben unterschiedliche Umfragen die Runde gemacht nach der Gründung neuer Parteien und neuer Bündnisse. Aber seit am 4. Februar 2021 die Registrierung von Wahllisten abgeschlossen wurde, scheinen sich die Umfragen zu stabilisieren.

Seitdem hat sich das Netanjahu-Lager mit etwa 50 Sitzen und das sehr viel “buntere” Anti-Netanjahu Lager mit etwa 60 Sitzen stabilisiert. Netanjahu wurde zu einem negativen Vereinigungsfaktor einer ungleichen Koalition von jüdischen wie arabischen Parteien, Religiösen wie Säkularen, Zweistaaten-Lösungs-Unterstützern wie Anhängern der Annexion des Westjordanlandes. Außerhalb der beiden Lager verweigert sich nur die rechte Partei Yamina (“Rechts”) von Naftali Bennett’s der Zuordnung mit der Rhetorik, die Netanjahu-Dichothomie abzulehnen und Wähler von beiden Seiten gewinnen zu wollen. Und das trotz ehemaliger Teilnahme an Regierungen unter Netanjahu, und Einigkeit über die meisten seiner rechten Richtungsentscheidungen.

Die verschiedenen Parteien

Das Netanjahu-Lager besteht aus vier Parteien: Netanyahu’s konservative Likud Partei, die etwas 30 Sitze erwartet; dieie beiden Ultra-Orthodoxen Parteien Shas („Sephardische Tora-Wächter“) und VTJ (“Vereinigtes Thora-Judentum”) mit jeweils etwa sieben Sitze und die kleinere ultra-nationalistisch-religiöse Partei Tkuma (“Wiedergeburt”), die um die fünf Sitze erwartet.

Das Anti-Netanjahu-Lager kann in drei Fraktionen aufegteilt weden: Mitte-Links, Rechte und arabische Parteien. Mitte-Links besteht aus vier Parteien: die liberal-zentristische Partei Jesch Atid unter Lapid mit bis zu 20 Sitzen. Die linken Parteien Avoda (“Arbeit”) und Meretz („Tatkraft“) mit je um die fünf Sitze in den Umfragen sowie “Blau-Weiß” unter Gantz, die kaum an die Mindesthürde von vier Sitzen in den Umfragen kommen. Die Rechte besteht aus Gideon Saar’s konservativen Partei Tikva Hadasha (“Neue Hoffnung”) und Avigdor Liberman’s rechts-säkulare Yisrael Beitenu Partei, die zusammen etwa zwanzig Sitze und die vier arabischen Parteien auf der Vereinigten Arabischen Liste, die um die zehn Sitze erwarten.

Bennett’s Yamina Partei spaltete sich von der ultra-nationalistisch-religiöse Partei Tkuma ab mit dem Ziel, eine breitere Öffentlichkeit erreichen zu können. Die Umfragen sagen um die zehn Sitze voraus.

Bei genauerer Betrachtung der Lager sieht man, wie wenig sich fundamental seit den letzten Wahlen geändert hat. Das Anti-Netanjahu Lager hat weiterhin eine dünne Mehrheit, die man nicht stabil nennen kann. Allein, dass Bennet’s Partei Yamina nicht mehr dem Netanjahu-Lager zugerechnet werden will, macht sie zum unabhängigen Akteur, der eine Anti-Netanjahu Koalition stützen könnte.

Netanyahu gegen Lapid, Saar und Bennet

Anders als in den vorausgehenden Wahlen sind die Korruptionsvorwürfe gegen Netanyahu als zentrales Thema verschwunden. Weder Verteidigungspolitik noch der Israelisch-Palestinäsische Konflikt scheinen eine große Rolle zu spielen. Bei dieser Wahl erwartet man, dass die Wähler für zwei zentrale Themen zu den Urnen zu gehen: Wirtschaft und Gesundheit. Das ist eindeutig mit der Covid-19 Krise verbunden und mit dem Vorwurf gegen die aktuelle Regierung, handlungsunfähig zu sein, wie das vergangene Jahr gezeigt tt.

Die Gegner Netanjahus zielen darauf ab Netanjahus Covid-19 Politik als gescheitert darzustellen und erklären im Gegensatz ihrer Alternativangebote. Netanjahu dagegen arbeitet hart daran die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die erfolgreiche israelische Impfkampagne ihm und seiner Wiederwahl zuzurechnen sei. Noch bleibt unklar inwieweit das Impfprogramm die Wahlen beeinflussen wird, nachdem Israel erst gerade aus dem dritten Lockdown kommt und die Erfolge der Kampagne erst beginnen ihre Wirkung zu zeigen.

Auf den ersten Blicksieht es so aus, als ob Netanyahu’s Hauptrivale der liberale Yair Lapid ist. Er führt die Opposition, die zweitgrößte Partei nach dem Likud und steht an der Spitze des größeren Lagers. Aber aus der Perspektive von Netanjahu ist Gideon Saar der wirkliche Rivale, wahrscheinlich, weil dieser auch Netanjahu-Anhänger der vergangenen Wahlen mobilisieren kann, im Gegensatz zu dem “links” portraitierten Lapid. Diese drei Parteiführer werden dann noch von Bennet herausgefordert, dessen Partei zwar kleiner ist, aber aufgrund der erwarteten Knessetsitze ein notwendiger Partner für beide Lager sein wird. Alle vier beanspruchen Israel’s nächster Premierminister zu werden, aber keiner kann eine Regierung bilden ohne die Unterstützung dieser Gruppe.

Kleine Parteien im Überlebenskampf

Im Versuch die kommenden Wahlen zu verstehen, müssen unbedingt zwei wichtige Faktoren betrachtet werden: wer sind die rivalisierenden Parteiführer und welche Parteien können den Sprung in die Knesset schaffen. Während die erste Frage auf den ersten Blick meist interessanter klingt, wird dieser Wahlgang stärker auch von den kleineren Parteien entschieden. Durch den Patt zwischen den Lagern kann jede kleine Partei, die es nicht über die 4-Sitz-Hürde schafft, das Gleichgewicht zugunsten eines der Lager entscheiden. Deswegen hat es sich etabliert, dass kleinere Parteien Wahlbündnisse schließen um gemeinsam anzutreten.

Zwei solcher breiten Bündnisse treten dieses Mal an: die ultra-nationalistisch-religiöse Bündnis um Thuma sowie die ideologisch-gemischte Vereinigte Arabische Liste. In beiden Fällen hat ein vormaliger Bündnispartner die Union verlassen um allein anzutreten. Während Bennett’s Yamina erfolgversprechende Umfragen hat, reicht das ehemalige Bündnis derzeit nur knapp an die 4-Sitz-Hürde und könnte, sollte sie diese nicht erreichen, dem Netanjahu-Lager schaden. Auf der anderen Seite scheint die Vereinigte Arabische Liste sicher in die nächste Knesset einzuziehen, während ihr Abweichler, Mansur Abbas’s unabhängie Raam (“Donner”) Partei voraussichtlich nicht in die Knesset einzieht, aber die Sitze der Vereinigten Liste um bis zu 3 Sitze verringern kann.

Während sich diese Maneuver grob die Waage halten, tritt Raam unabhängig an mit der Ansage, dass die israelischen Araber auch eine Menge in einem Bündnis mit Netanjahu erreichen könnten. Eine weitere Partei, die erneut laut Umfragen den Einzug in die Knesset verpasst, ist die liberal-populistische Partei HaMiflagah HaKalkalit Hadasha (“Neue Wirtschaftspartei”). Es wird daher vermutet, dass die Partei das Rennen noch vor dem Wahltag verlassen wird.

Während alle kleinen Parteien das Gleichgewicht zwischen den Lagern beeinflussen, gilt im Anti-Netanjahu-Lager die grösste Sorge, das seine der drei Mitte-links-Parteien die 4-Sitz-Hürde zu knacken verfehlen. Avoda, Meretz und Blau-Weiß haben sich alle gegen einen Zusammenschluss entschieden und scheinen fest überzeugt von ihren Wählern am Wahltag nicht im Stich gelassen zu werden. Sollte eine oder sogar zwei der Parteien an der 4-Sitz-Hürde scheitern, könnte das Netanjahu-Lager mit Yamina die nächste Regierung stellen.

Was ist zu erwarten?

Mit den Wahlen in weniger als einem Monat, stehen zwei Dinge schon fest: Zum einen, wird das Schicksal der kleinsten Parteien die Größe der rivalisierenden Lager bestimmen. Das bedeutet, dass anders als in vorhergehenden Wahlen die politischen Führer der Lager mehr Rücksicht auf die kleineren Partner im Wahlkampf nehmen müssen um keine Stimmen auf deren Kosten zu gewinnen. Denn das scheint der wahrscheinlichste Weg aus dem Patt der vergangenen zwei Jahre auszubrechen.

Als drittes kann sich der Pattzustand auch fortsetzen und Israel auf den Weg zu einem fünften Wahlgang bringen. Diese Möglichkeit ist nach aktuellen Umfragen unwahrscheinlich, aber in diesem Falle könnte sich in der Fortsetzung des Pattzustands plötzlich der heute unpopuläre Gantz tatsächlich auf dem Sitz des Premiers wiederfinden. Der unwahrscheinliche Kandidat könnte Premierminister im November trotz der kollabierten Zustimmung werden aufgrund des noch existierenden Koalitionsvertrags mit Netanjahu, der in Kraft bleibt, bis sich eine neue Regierung gebildet hat.