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Krieg in Europa
Zeitenwende deutscher Sicherheitspolitik

Sicherheitspolitik
© picture alliance / Flashpic | Jens Krick  

Die Bundesregierung hat sich in der Sondersitzung zum Krieg in der Ukraine am 27. Februar deutlich zur deutschen Verteidigungsfähigkeit geäußert, allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungsklärung. Es geht um die Modernisierung und Ausrüstung der Bundeswehr in allen Bereichen -  inklusive des Trägersystems der nuklearen Teilhabe.

Lange war die Diskussion über eine Modernisierung in den Hintergrund gerückt und die dringend notwendige Entscheidung über die Nachfolge des veralteten Trägersystems über die letzten Legislaturperioden verschleppt worden. Die von Bundeskanzler Scholz konstatierte Zeitenwende als Ergebnis des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine ist daher auch ein Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Sicherheitspolitik. Das betrifft auch die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung und die Verpflichtung Deutschlands im Rahmen der NATO zur nuklearen Teilhabe.

Putins nukleare Drohung

2014 hat die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland die „Trendwende Bundeswehr“ ausgelöst. Im Verlauf der Krimkrise ließ Putin unter anderem atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen nach Kaliningrad verlegen. Sukzessiv wurde der deutsche Verteidigungsetat erhöht und eine Personal- und Rüstungsreform eingeleitet. Das Thema der nuklearen Abschreckung wurde in Berlin diskutiert, erreichte für die Entscheidung der Tornado-Nachfolge, um die nuklearen Teilhabe sicherzustellen, allerdings keinen ausreichenden Konsens. In sicherheitspolitischen Kreisen wurde zeitweise spekuliert, ob die deutsche Bundesregierung die Nachfolge soweit hinauszögert, bis die Fähigkeit einfach nicht mehr dargestellt werden kann.

Aus der Trendwende wird nun eine Zeitenwende deutscher Sicherheitspolitik, in erster Linie durch das nun verkündete „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro im Bundeshaushalt 2022, die Zusage der jährlichen Investition von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung (im Vergleich: 2020 lag Deutschland bei etwa 1,4 Prozent), die Förderung europäischer Rüstungsprojekte, -industrie und gemeinsamer Verteidigungsfähigkeiten sowie die rigorose Beseitigung von gravierenden Fähigkeitslücken der Bundeswehr. Die Zusage zur Bewaffnung von Drohnen und die Priorisierung der Nachfolge der Tornado-Flotte (insbesondere dem Teil der Flotte, der die nukleare Teilhabe sicherstellt) ist ein Umbruch. Die (Rück-)Besinnung auf nukleare Abschreckung ist eine direkte Reaktion auf die von Putin seit Kriegsbeginn in der Ukraine am 24. Februar wiederholte Drohung, auch Nuklearwaffen einzusetzen, sollte der Westen sich direkt in die Kriegshandlungen in der Ukraine einmischen.

Der Grundgedanke nuklearer Abschreckung

Seit 1945 und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki wurden nie wieder Nuklearwaffen in einem Krieg eingesetzt. Dennoch haben sich nukleare Fähigkeiten als Sicherheitsstrategie etabliert. Neben den USA und Russland, die gemeinsam mehr als 90 Prozent aller nuklearen Sprengköpfe weltweit besitzen, haben Frankreich und Großbritannien eigene Kernwaffen, darüber hinaus China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Atomwaffenprogramme werden auch im Iran und Saudi-Arabien vermutet.

Die Strategie nuklearer Abschreckung sieht vor, den Gegner durch das Versprechen gegenseitiger totaler Vernichtung (mutually assured destruction) von einem Erstschlag abzuhalten. Heute unterscheiden sich nuklearstrategische Ansätze vor allem in der Annahme, ob Nuklearwaffen tatsächlich operativ in einer Konfliktführung eine Rolle spielen, die sogenannte glaubwürdige Kriegsführung mittels Nuklearwaffen, oder eher politisches Gewicht haben. Demnach werden Nuklearwaffen als allerletztes Mittel betrachtet, da ein Krieg unter ihrem Einsatz eher zur Ausrottung der Menschheit als einem Kriegsgewinn führen kann.

Mit seiner jüngsten Ankündigung, russische Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, hat Putin in Deutschland und in Europa das Thema nukleare Abschreckung zurück auf die Tagesordnung geholt. In der Bedeutung gilt „erhöhte Alarmbereitschaft“ als die zweite von vier Eskalationsstufen: 1. normal = Friedenszeit, 2. erhöhte Alarmbereitschaft = Kasernen dauerhaft besetzt, 3. militärische Gefahr = Scharfmachung der Waffen, 4. voll = Nuklearwaffen werden abgefeuert. Auch 2014 hatte Putin die zweite Eskalationsstufe aktiviert. Die meisten Experten sind sich einig, dass der tatsächliche Einsatz nuklearer Waffen sehr unwahrscheinlich ist –  wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI und Vertreter des Carnegie Endowment for International Peace. Dennoch ist die Lage ernst und die Gefahr einer (unbeabsichtigten) Eskalation nicht zu unterschätzen.

Die Nukleare Teilhabe als fester Bestandteil Europäischer Sicherheit

Die nukleare Abschreckung bildet seit Gründung der NATO einen wichtigen Grundstein kollektiver Verteidigung und gegenseitiger Sicherheitsgarantien. Seit 1953 stellen die USA der NATO ihre Nuklearwaffen zur Verfügung, seit 1954 sind amerikanische Atomwaffen in Europa stationiert. Die nukleare Teilhabe entwickelte sich daraus. Im Kern beinhaltet sie die Lagerung US-amerikanischer Atomwaffen auf dem Territorium der beteiligten Staaten, die wiederum die technischen Voraussetzungen zum Einsatz von Nuklearwaffen gewährleisten. So stellt Deutschland derzeit das Kampfflugzeug Tornado. Bis zum tatsächlichen Einsatz sind die Nuklearwaffen unter US-Hoheit. Durch die Verantwortlichkeit über die Trägersysteme hat der Partnerstaat de facto ein Vetorecht über deren finalen Einsatz.

Von den drei Nuklearmächten der NATO stellt lediglich die USA ihre Atomwaffen für die nukleare Teilhabe zur Verfügung, weder die britischen noch die französischen Kernwaffen sind für eine nukleare Teilhabe konzipiert. Heute sind neben Deutschland Belgien, Italien, die Niederlande und die Türkei nukleare Teilhabestaaten, wobei türkische Flugzeuge angeblich seit Mitte der 1990er nicht mehr für den Einsatz zertifiziert sind. Politisch und gesellschaftlich variierte die Zustimmung zur nuklearen Teilhabe deutlich. In Deutschland gab es wiederholt politische Anträge, die deutsche Teilhabe zu überdenken und langfristig abzuschaffen. Mit der Priorisierung der Tornado-Nachfolge in seiner Regierungsansprache hat Bundeskanzler Scholz dem deutschen Beitrag zur nuklearen Abschreckungsstrategie der NATO nun eine neue Bedeutung verliehen und diesen Ablehnungstrend reversiert. Dieser Doktrin jetzt Glaubwürdigkeit zu verschaffen, ist eine große Herausforderung. Die konkreten Beschaffungsmaßnahmen haben sich bis dato komplex gestaltet und werden jetzt nicht einfacher. Dennoch hat der Nachdruck der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz eine Zeitwende eingeleitet, die vor allem in den Köpfen der Verantwortlichen beginnt.