ANSCHLUSS VERPASST?

„Soziale Zeit hält uns in der Stadt gesund“

Städte sind laute und hektische Orte, auf dem Land mit den weiten Wegen ist der Alltag mühsam. Der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli erklärt, wie beide Milieus voneinander profitieren können.

Interview: Judy Born
Illustrationen: Emmanuel Polanco


ANSCHLUSS VERPASST?

„Soziale Zeit hält uns in der Stadt gesund“

Städte sind laute und hektische Orte, auf dem Land mit den weiten Wegen ist der Alltag mühsam. Der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli erklärt, wie beide Milieus voneinander profitieren können.

Interview: Judy Born
Illustrationen: Emmanuel Polanco

Herr Adli, wird über das Thema Stadt vs. Land diskutiert, sind meist die großen Städte gemeint. Ab wann ist eine Stadt groß?

Das ist eine überraschend geringe Zahl, denn alles ab 100 000 Einwohnern gilt bereits als Großstadt. Wirkliche Millionenstädte gibt es in Deutschland nur wenige, nämlich Berlin, Hamburg, München – und Köln schafft die Hürde noch gerade so. Dafür können wir mit einigen Ballungszentren aufwarten wie dem Ruhrgebiet und der Rhein-Main-Region.

Entscheidet sich unsere Zukunft in den Städten?

Ja. Davon bin ich überzeugt. Städte sind seit jeher die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen, die politischen und kulturellen Zentren. Sie ziehen die Menschen an, hier entwickeln sich Stimmungen, Trends und breiten sich weiter aus. Sie sind die Integrationsmaschinen einer offenen Gesellschaft. Städte sind Gar-Töpfe, wenn es um die Befindlichkeit der Bevölkerung geht. Deshalb tun wir gut daran, dafür zu sorgen, dass Städte lebenswerte Orte sind und es bleiben.

Macht das Stadtleben denn krank?

Es mag mitunter zwar stressig sein, volle Straßen und U-Bahnen nerven vielleicht mal, machen uns aber nicht unbedingt krank. Gesundheitsrelevant wird es allerdings, wenn Stadt-Stress zu einer permanenten Belastung wird, der wir nicht mehr gewachsen sind. Das gilt vor allem für sozialen Stress.

Was bedeutet dieser Begriff?

Sozialer Stress kann unsere psychische Gesundheit empfindlich beeinflussen und wird in der Stadt im Wesentlichen durch zwei Faktoren ausgelöst: soziale Isolation und soziale Dichte. Soziale Isolation bedeutet, sich nicht zugehörig zu fühlen oder die Erfahrung von Einsamkeit zu machen. Oder auch die Erfahrung von sozialem Ausschluss, wenn man aufgrund finanzieller Verhältnisse, körperlicher Einschränkungen, sozialer Barrieren oder Diskriminierungserfahrung keine ausreichende Teilhabe an den vielen Vorteilen der Stadt hat. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist hingegen ein wesentliches protektives Element. Es macht uns resilient gegenüber dem, was uns im städtischen Alltag stresst. Solange wir den Stress durch soziale Verbundenheit ausgleichen können, ist es gut.

Was ist unter sozialer Dichte zu verstehen?

Damit ist das Gefühl von Enge gemeint, wenn man nicht genügend Platz hat. Soziale Dichte wird zum Stressfaktor, wenn Möglichkeiten fehlen, um sich mal von der Betriebsamkeit der Stadt zurückzuziehen, etwa ein eigenes Zimmer oder zumindest eine Tür, die man hinter sich schließen kann.

Sie haben mit weiteren Mitstreitern in Berlin das „Interdisziplinäre Forum Neurourbanistik“ gegründet und möchten dafür sorgen, dass wir künftig alle in lebenswerten Städten leben können. Wie gehen Sie das an?

Wir sind ein Zusammenschluss von Experten aus unterschiedlichen Bereichen wie der Stadtplanung, Architektur, Psychiatrie, Philosophie, Soziologie, Medizin und vielen mehr. Gemeinsam erforschen wir, wie das Leben in der Stadt unsere Emotionen und unsere psychische Gesundheit beeinflusst. Diesen Faktoren gehen wir nach, machen sie messbar und lernen, wie sie in einer Stadt wirken: auf das soziale Miteinander, aber auch auf die Natur, die Stadtstruktur und die Gebäude.

Können Sie ein konkretes Beispiel dieser Arbeit nennen?

In Berlin haben wir das bürgerwissenschaftliche Projekt „Deine emotionale Stadt“ gestartet. Wer daran teilnehmen möchte, kann sich eine App kostenlos runterladen und wird eine Woche über GPS durch die Stadt begleitet und nach den emotionalen Erfahrungen und dem jeweiligen sozialen Kontext befragt. So erfahren wir, wann und wo sich die Menschen beispielsweise sicher oder unsicher, fröhlich oder traurig, angespannt oder entspannt fühlen. Das Projekt läuft über mehrere Jahre, und wir hoffen, im Laufe der Zeit eine Art emotionale Wetterkarte für Berlin zu erhalten. Berlin macht den Anfang, später sollen weitere Städte wie Melbourne, Beirut oder Santiago de Chile folgen. Wer sich an dem Projekt beteiligen möchte, kann unter futurium.de/de/deine-emotionale-stadt mehr dazu erfahren.

Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und leitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité den Forschungsbereich „Affektive Erkrankungen“. Zudem ist er Stressforscher, Hochschullehrer und Autor. 2017 erschien sein Buch „Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind“.

Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und leitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité den Forschungsbereich „Affektive Erkrankungen“. Zudem ist er Stressforscher, Hochschullehrer und Autor. 2017 erschien sein Buch „Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind“.

Wann tun uns Städte gut? 

Wenn wir alle Möglichkeiten nutzen, die insbesondere der sozialen Isolation entgegenwirken. Dazu gehören Grünflächen, öffentliche Räume, kulturelle Einrichtungen. Die Theater etwa haben für mich auch einen Gesundheitsauftrag. Es sind Begegnungsorte, die Interaktionen befördern, an denen wir mit anderen in Kontakt treten. Grundsätzlich gilt: Zeit, die wir vor unserer Tür verbringen, ist für unsere Psyche besser als die dahinter. Weil es in der Regel prosoziale Zeit ist – und die hält uns in der Stadt gesund.

Ist aber das Landleben nicht per se gesünder?

Nein, dort kann das Leben auf andere Weise stressig sein. Die Organisation des Alltags ist mühsamer, weil die Wege weiter sind, das Bildungs- und Kulturangebot nicht so vielfältig ist oder es an der medizinischen Versorgung hakt. Bekannt ist übrigens, dass Landbewohner häufiger von Übergewicht betroffen sind und sich ungesünder ernähren. Und es gibt Untersuchungen, die davon ausgehen, dass sich soziale Aktivitäten und Engagements von Pendlern verkleinern: pro zehn Minuten Pendelweg um zehn Prozent. Gleichzeitig nehmen psychische Beschwerden zu.

Dafür ist das Leben auf dem Land nicht so anonym wie in der Stadt.

Traditionell mag das so sein, dass die sozialen Bindungen stärker sind und man sich mehr umeinander kümmert. Das gilt aber nicht unbedingt für Zugezogene. Die Aufnahme in die Gemeinschaft kann schon mal zur harten Nuss werden. Und die Anonymität der Großstadt tauscht man gegen eine soziale Kontrolle, mit der man auch erst mal lernen muss umzugehen.

Wir sind auch nicht alle gleich: Nicht jeder mag in die Stadt, genauso wenig wollen alle aufs Land.

Das Stadt- wie das Landleben haben Vor- und Nachteile. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf beiden Seiten nur die Nachteile akkumulieren. Ich glaube, man muss die urbanen Vorteile auch im ländlichen Milieu zugänglich machen und andersherum. Das wäre ein idealer Kompromiss. Denn man muss bei dieser Diskussion realistisch bleiben: Die wenigsten können sich ihr Wohnumfeld ihren persönlichen Vorlieben und Bedürfnissen entsprechend aussuchen. Das muss man sich auch leisten können. Wo man lebt, bestimmen in der Regel die finanziellen Möglichkeiten, die -Familie, Kinder und der Beruf.

Wenn Sie die Wahl hätten: ein Landsitz mit allem Drum und Dran oder die kleine Stadtwohnung?

Ich bin ein totaler Stadtmensch, ich würde mich immer für die Stadtwohnung entscheiden.

Judy Born ist freie Journalistin und liebt Großstädte. Geboren ist sie in Stockholm, sie lebte und arbeitete in München, London und Berlin. Derzeit ist sie in Hamburg zu Hause.

Judy Born ist freie Journalistin und liebt Großstädte. Geboren ist sie in Stockholm, sie lebte und arbeitete in München, London und Berlin. Derzeit ist sie in Hamburg zu Hause.

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