KRIEG IN EUROPA

Russlands Werk und Deutschlands Beitrag

Putins Überfall auf die Ukraine hat die deutsche Politik abrupt aus ihrer Naivität gerissen. Wie konnte sie weitgehend geschlossen einer solchen Fehleinschätzung erliegen?

TEXT: WOLFRAM EILENBERGER

KRIEG IN EUROPA

Russlands Werk und Deutschlands Beitrag

Putins Überfall auf die Ukraine hat die deutsche Politik abrupt aus ihrer Naivität gerissen. Wie konnte sie weitgehend geschlossen einer solchen Fehleinschätzung erliegen?

TEXT: WOLFRAM EILENBERGER

Der Ausgang der Bundesrepublik Deutschland aus selbstverschuldeter geopolitischer Unmündigkeit vollzog sich Ende Februar 2022 mit einer Abruptheit, die man sonst nur aus Märchen oder philosophischen Gedankenexperimenten kennt. Als seien sämtliche Regierungsparteien der vergangenen Jahrzehnte aus einem bösen (oder guten?) Traum erwacht, kehrten sie binnen 48 Stunden leitende Dogmen der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik ins Gegenteil um: Waffenlieferungen in Kriegsgebiete wurden auf einmal für unabdingbar befunden, essenzielle strategische Partnerschaften indes für faktisch entbehrlich; Rüstungsetats wurden in einem Streich um 100 Milliarden Euro aufgestockt, bis dato sorgsam gepflegte Unterscheidungen zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Interessen, Stichwort Nord Stream 2, mit einem Satz einkassiert.

Sogar die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht steht im Raum, samt einer Rückbesinnung auf die Kernkraft. Und wie im Märchen lässt sich auch der Dämon benennen, aus dessen dunklem Wirken Deutschland sich mit einem Schlag erwacht wähnte: Wladimir Putin, seit 22 Jahren an der Spitze der Russischen Föderation.

Es gilt nun, die Gründe der eigenen Blindheiten und Verdrängungen zur Sprache zu bringen.

Fehlende Differenz

Deutschlands Außenpolitik stand seit Jahrzehnten maßgeblich im Zeichen der Russland-Frage, geleitet von der Prämisse, es gebe einen entscheidenden Unterschied zwischen dem nationalistisch-expansiven Revanchismus, den Putin unters eigene Volk streut, und den streng rationalen postideologischen Kalkülen, die sein außenpolitisches Handeln angeblich leiten. Das beständige Ausloten dieser mutmaßlichen Differenz brachte über die Jahrzehnte eine neue hermeneutische Tradition sowie einen eigenen Idealtypus außenpolitischer Vermittlung hervor: den „Russlandversteher“.

Nimmermehr. Die für Deutschland mit Putins Ukraine-Invasion verbundene Erweckung bestand im schockhaften Gewahren, dass die alles entscheidende Differenz zwischen Putins Schein und Sein nicht oder nicht mehr existiert. Offenbar verwechselt der russische Präsident seine eigene nationalistische Erzählwelt mit der Realität, ist er geistig zum Gefangenen seiner eigenen Rhetorik geworden. An sich ein nur menschlicher, ja allzu menschlicher Effekt – zumal für ein an der Macht seit Jahrzehnten sozial isoliertes Individuum.

Fehlende Aufarbeitung

Im Versuch zu begreifen, wie Deutschlands politische Öffentlichkeit und Eliten solch einer fundamentalen Fehleinschätzung weitgehend geschlossen erliegen konnten, hilft ein Pathologisieren des nun entlarvten Dämons – nach dem Motto: Putin, der Wahnsinnige! Der Irre aus dem Kreml! – indes nicht wesentlich weiter. Und zwar allein schon deshalb nicht, weil es definitionsgemäß schwierig ist, vollends Wahnsinnige zu verstehen. Vielmehr gilt es, im Sinne einer Aufklärung des Geschehens die Gründe gerade auch der eigenen Blindheiten und Verdrängungen zur Sprache zu bringen. Auch zu tief toxischen Beziehungen braucht es schließlich immer zwei.

Eine wichtige Rolle spielt das jeweilige Verhältnis der Nationen und einstmaliger Reiche zu ihrer Vergangenheit. Sollte auch nur irgendetwas stichhaltig sein an der modernen Mutmaßung, wer seine Geschichte nicht gründlich aufarbeite, sei dazu verdammt, sie in der ein oder anderen Ausprägung zu wiederholen, so gründen die tiefen deutschen Fehleinschätzungen bezüglich Russland in der Unfähigkeit, sich auch nur annähernd vorzustellen, wie unaufgearbeitet die Schrecken des 20. Jahrhunderts sind, die der russische bzw. der sowjetische Staat dem sogenannten russischen Volk sowie natürlich auch den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bereitete. Diese Schrecken zeigten sich wohl nirgends im ehemaligen Sowjetreich grausamer und todbringender als im heutigen Gebiet der Ukraine.

Aus dieser Sicht ist es mehr als nur ein Detail, dass Putin nur wenige Wochen vor seiner Invasion ein endgültiges Verbot von „Memorial“ betrieb, jener russischen Menschenrechtsorganisation, die sich seit Jahrzehnten gegen alle staatlichen Widerstände für eine Aufarbeitung der bis heute nachwirkenden sowjetischen Schrecken von Gulag, Völkerverfrachtung und genozidalen Auslöschungen einsetzte. Das erste, in seiner Menschenverachtung wegweisende Zentrum dieser Auslöschungen war der Holodomor, der von Stalin in den frühen Dreißigerjahren systematisch bewirkte Hungertod von mehr als 3 Millionen Ukrainern. Auch gibt es bis zum heutigen Tag so gut wie keine russische Familie, die nicht aus engstem Kreise Opfer des Gulags und der Zwangsverschleppung zu erinnern wüsste. Die Anzahl der hiervon betroffenen Individuen überschreitet allein von den Jahren 1930–1953 die Grenze von 25 Millionen.

Putins Russland ist dem Erbe der Sowjetunion von Beginn an mit konzentriertem Verdrängen, Verschweigen und Zensieren begegnet.

Die Verdrängung der Verdrängung

Gerade als Deutscher jedoch gerät man in dem Impuls, ein fehlendes Aufarbeiten im heutigen Russland anzumahnen, leicht in eine spezifische Schweigeschleife, deren dialogische Dynamik man als die einer Verdrängung der Verdrängung beschreiben könnte. Schließlich steht jedes Bestreben von deutscher Warte, diese Verbrechen zur Sprache zu bringen, unter dem verheerenden Verdacht einer tendenziösen Gleichsetzung der Verbrechen Hitlers und Stalins. Dazu passt, dass wie ihre Amtsvorgänger Heiko Maas und Angela Merkel auch Annalena Baerbock und Olaf Scholz die lange Weigerung, deutsche Waffen in die Ukraine zu senden, mit der spezifisch grausamen Geschichte der Wehrmacht in diesen Gebieten begründeten. Es geht allerdings hier nicht darum, wie Deutschland das Gebaren Stalins erinnert und rationalisiert (oder Polen, Estland, Finnland, die Ukraine oder Kasachstan die jeweiligen Verbrechen der einstigen Sowjetmacht an deren Völkern und Volksgruppen). Es geht darum, wie das heutige Russland dies mit Blick auf sich und seine damaligen Einfluss- und also Gewaltzonen tut.

Putins Russland ist diesem Erbe von Beginn an mit konzentriertem Verdrängen, Verschweigen und Zensieren begegnet. Der russische Verdrängungsprozess gleicht in den zurückliegenden Jahrzehnten einem autodestruktiven Gang in selbstverschuldete historische Unmündigkeit, als deren letzter Ausfluss Putins Kreml mit Blick auf den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (Spross einer Familie von Holocaust-Opfern) und seine Regierung von einer Clique von „Drogenabhängigen und Neonazis“ spricht. Ein Psychoanalytiker müsste hier einen klaren Fall von Projektion feststellen, dem chronischen Fremdgeher gleich, der seine Gattin steter Untreue beschuldigt. Die diesen Zustand der Selbstverwirrung ermöglichende Droge aber wäre hier keine andere als Russlands verdrängender Umgang mit seiner eigenen Werdensgeschichte.

Alte Dämonen

Es ist diese Form aggressivster historischer Selbstüberwältigung, für deren schiere kulturelle Möglichkeit insbesondere der westdeutschen Öffentlichkeit und deren Eliten über Jahrzehnte das gemäße Bewusstsein fehlte. Es überschritt buchstäblich deren Vorstellungskraft als Kinder der deutschen Nachkriegszeit. Man könnte im modernen bundesrepublikanischen Zusammenhang von einer Form beispielhaft aufgeklärter Naivität sprechen – von ebenjener von westlichen wie östlichen Verbündeten in den vergangenen Jahren immer wieder kopfschüttelnd gerügten spezifischen Russland-Naivität, die Deutschland nun im Zeitraffer abzustreifen entschied. Eine reife moralische Entrüstung gebar im Berlin des späten Februar 2022 binnen weniger Stunden den nachhaltigen Willen zur Wiederaufrüstung.

Es bleibt nur zu hoffen, dass Deutschlands geopolitisches Erwachen sich nicht viel zu abrupt vollzog, um nicht seinerseits in unaufgeklärten Aktionismus und längst überkommen gewähnte Interpretationsmuster zurückfallen zu müssen. In den tiefsten Schichten des deutschen kulturellen Unterbewusstseins lauert nach wie vor die Angst vor „dem Russen“ als Bedrohungsfigur aus „dem Osten“ und das Bild von Russland als einem Reich in maximaler Differenz zu Europa. All dies steht zur politisch-revanchistischen Mobilisierung gewiss weiterhin bereit. Ihrem Flüstern selbst in dunkelster Zeit wehrhaft zu widerstehen, wäre der Ausweis einer wirklich gelungenen historischen Selbstaufklärung Deutschlands.

Wolfgang Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“.

Wolfgang Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“.

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