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Türkei Bulletin
Der Preis der Meinungsfreiheit in der Türkei

International rally in front of the Turkish Embassy
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Jan Scheunert

Ist die Justiz in der Türkei noch unabhängig? Auch wenn Ankara immer wieder die Unabhängigkeit der türkischen Justiz betont, kommen bei der Lektüre des kürzlich veröffentlichten Monitoringberichts von MLSA erhebliche Zweifel auf. Die türkische Nichtregierungsorganisation, die sich vor allem für die Rechte von Journalistinnen und Journalisten einsetzt, hat mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ein weiteres Jahr hindurch zahlreiche Gerichtsverfahren beobachtet und dokumentiert, die im Zusammenhang mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung standen. Dabei wurden zahlreiche Verstöße offenkundig.

Im Rahmen der 446 Anhörungen im Zusammenhang mit insgesamt 210 Gerichtsverfahren in 23 verschiedenen türkischen Städten, denen die MLSA-Beobachter zwischen September 2021 und September 2022 beiwohnten, wurden 67 Angeklagte zu knapp 300 Jahren Gefängnis in Summe verurteilt. Die lebenslangen Haftstrafen für Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala und den Journalisten Rojhat Doğru sind hier noch nicht einmal enthalten. Insgesamt standen in den betreffenden Verfahren 1398 Personen vor Gericht, die meisten Aktivisten, Studierende, Journalisten und Politiker. Dabei wurden dem Bericht zufolge in vielen Fällen Urteile des türkischen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet, ebenso vermerkten die Beobachter etliche Verstöße gegen das Recht auf eine faire Verhandlung.

Aus dem Bericht geht hervor, dass es vor allem Journalisten sind, die – wie auch schon in den Jahren zuvor – wegen Terrorismusvorwürfen und Beleidigung des Präsidenten verurteilt werden. 143 Journalisten wurden aufgrund von „Propaganda für eine terroristische Organisation“ angehört, 38 wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und 18 wegen Präsidentenbeleidigung. Als Beweise zog die Staatsanwaltschaft in einer Vielzahl der Fälle lediglich die Artikel und Social-Media-Posts der Beschuldigten heran. Bedenkt man das im Oktober 2022 in Kraft getretene Desinformationsgesetz, laut dem für die Verbreitung von der Regierung als „unwahr“ eingestufter Nachrichten eine Freiheitsstrafe von ein bis drei Jahren vorgesehen ist, lässt sich erahnen, wie schwer es in der Türkei geworden ist, überhaupt noch ohne (Selbst-) Zensur journalistisch tätig zu sein.

Doch nicht nur Journalisten müssen Verurteilungen fürchten. Laut Bericht wurden 800 Personen wegen Teilnahme an friedlichen Demonstrationen vor Gericht gestellt, was durch Artikel 34 der Verfassung eigentlich ein garantiertes Recht darstellt. Als Begründungen wurden der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, die Verhinderung von Straftaten, der Schutz der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Moral sowie die Rechte und Freiheiten anderer herangezogen. Im gleichen Zeitraum wurden aber andere Demonstrationen, wie die „große Familienzusammenkunft“, bei der gegen sexuelle Minderheiten und für ein Verbot von LGBTI+-Organisationen im Land demonstriert wurde, erlaubt und sogar vom Staatsfernsehen propagiert.

Hervorzuheben ist vor allem das Urteil gegen den Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala, der im April 2022 im sogenannten dritten Gezi-Gerichtsverfahren nach bereits mehr als viereinhalb Jahren Haft zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt wurde. In seiner Resolution zum Fall Kavala verurteilte auch das Europäischen Parlament den Schuldspruch aufs Schärfste. Kavala wird vorgeworfen, der Drahtzieher der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 gewesen zu sein. Trotz der fragwürdigen Beweislage wurde er, unter Missachtung des rechtsverbindlichen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Freilassung, inhaftiert. Besonders schwer wiegt in diesem Fall, dass die Justiz das Verbot der Doppelbestrafung missachtet hat – er wurde vor dem verschärften Urteil im April 2022 bereits zwei Jahre zuvor im gleichen Fall zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Bericht hält schließlich noch Anmerkungen zum Recht auf ein faires Verfahren fest, gegen welches in einer Vielzahl von Fällen verstoßen wurde. So begannen 60 Prozent aller beobachteten Anhörungen zu spät. Grund war meist die Arbeitsbelastung des Gerichts. In 123 Fällen kam es außerdem zu einem Austausch der Richter während des Gerichtsverfahrens, vor allem am Obersten Strafgerichtshof und am Strafgerichtshof erster Instanz. In zwölf Fällen wurden die Angeklagten bereits vor Gericht geladen, als sie sich noch in Untersuchungshaft befanden. In einigen der beobachteten Verfahren wurde den Angeklagten ihr Recht auf Anwesenheit bei der Anhörung verwehrt, ebenso wurden in 68 Fällen keine Zuhörer zur Anhörung zugelassen. Immerhin konnten sich Prozessbeobachter in 18 dieser Fälle als Pressemitglieder Zugang zum Gerichtssaal verschaffen. Auffällig war laut der Prozessbeobachter außerdem das unhöfliche Verhalten einiger Richter gegenüber den Angeklagten und ihren Anwälten. Durch voreingenommene Beurteilungen hätten einige Richter den Eindruck vermittelt, die Angeklagten verurteilen zu wollen. Es wurde auch festgestellt, dass die Staatsanwälte in vielen Fällen in ihren Plädoyers Urteile forderten, ohne Beweise zugunsten der Angeklagten zu berücksichtigen.

Immerhin wurden 226 Personen in 51 Fällen von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen – ein schwacher Trost angesichts der vielen Rechtsverletzungen, die der Bericht dokumentiert. Insgesamt ergibt sich ein düsteres Bild der türkischen Justiz, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit erweckt und den Eindruck vermittelt, dass freie Meinungsäußerung nur solange erwünscht ist, wie sie im Einklang mit den Ansichten der Machthaber steht. Ob sich das ändern wird, werden die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 2023 zeigen.

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