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„Der Sturm auf den Reichstag ist nur eine Inszenierung. Aber eine gefährliche.“

Demo Reichstag
© picture alliance / SULUPRESS.DE | Marc Vorwerk/SULUPRESS.DE

Christoph Giesa ist liberaler Publizist. Gerade erschien sein neues Buch „Echte Helden, falsche Helden – Was Demokraten gegen Populisten stark macht“ bei Droemer Knaur. Dieses stellt er am 3. September um 18 Uhr im Gespräch mit Ria Schröder in der FNF-Veranstaltungsreihe „Lesen. Jetzt!“ vor. Mit freiheit.org spricht er darüber, warum auch demokratische Gesellschaften Heldinnen und Helden brauchen und was das mit der versuchten Erstürmung des Bundestags zu tun hat.

freiheit.org: Herr Giesa, am Wochenende versuchten einige Hundert Demonstranten den Reichstag zu stürmen. Es wehten wieder Reichsflaggen vor dem deutschen Parlament. Was soll das? Und wie gefährlich ist das?

Giesa: Die Bilder sind natürlich verstörend. Aber man muss nun aufpassen, dass die Art und Weise, wie wir über sie reden, ihnen nicht noch eine zusätzliche Wucht gibt, die sie nicht verdient haben. Wir haben gerade keinen versuchten Umsturz erlebt. Dazu ist die rechte Szene viel zu schwach. Oder besser gesagt: Die demokratischen Institutionen sind viel zu stark. Was wir allerdings erlebt haben, ist die versuchte Inszenierung einer antidemokratischen Heldenerzählung nach dem Motto: „Seht her, so nah sind wir der Macht schon.“ Gefährlich wird das erst, wenn diese Erzählung in der Mitte der Gesellschaft verfängt, die Demokratie als schwach wahrgenommen wird. Das zu verhindern ist auch und gerade unser aller Aufgabe.

freiheit.org: Wie genau können wir uns diese Aufgabe vorstellen?

Giesa: Ganz sicher nicht, indem wir die Provokationen aus der rechten Szene mit Gewalt oder Übergriffigkeiten beantworten. Nichts wäre den Köpfen hinter Aktionen wie denen vom Wochenende lieber als Bilder eines Staates, der sich an seine eigenen Regeln nicht hält. Schon der Versuch, die Demos zu verbieten hat der Szene unnötig Munition geliefert. Vielmehr geht es um zwei Dinge. Erstens sollten wir den Erzählungen von einem fast geglückten Staatsstreich nicht auf den Leim gehen. Das war nicht der Fall. Zweitens sollten wir im Kampf um die Frage, wer denn nun heldenhaft gehandelt hat, nicht den Kopf einziehen. Nicht die Demonstranten haben sich heldenhaft gegen ein Unterdrückerregime aufgelehnt, wie aus der rechten Ecke nun behauptet wird. Das sind „falsche Helden“. Echte Helden waren hingegen die drei mutigen Polizisten, die das hohe Haus der liberalen Demokratie gegen autoritäre Übergriffe verteidigt haben – und zwar durchaus auch auf die Gefahr hin, dass sie selbst Schaden nehmen. Diese mutmachende Erzählung sollten wir verbreiten!

freiheit.org: „Echte Helden, falsche Helden“ heißt ja auch Ihr neues Buch. Sollte die liberale Demokratie nicht lieber ganz auf Heldenfiguren verzichten, anstatt sich darüber zu streiten, was denn nun echte Helden ausmacht?

Giesa: Wenn ich ehrlich bin, hätte ich vor drei, vier Jahren auf diese Frage noch mit einem lauten Ja geantwortet. Ich war bis vor gar nicht allzu langer Zeit davon überzeugt, dass der rationale, klare und immer ein wenig leise Verfassungspatriotismus ausreicht, um alle emotionalen oder gar populistischen Anwürfe gegen unsere liberale Gesellschaftsordnung abzuwehren. Allerdings sehe ich seit einiger Zeit, wie Antidemokraten – in erster Linie von rechts, aber nicht nur – versuchen, die Deutungshoheit über Symbole, Begriffe und Persönlichkeiten zu gewinnen, die unser demokratisches Selbstverständnis definieren. Egal ob das nun unsere Nationalfarben sind, der Begriff „Freiheit“ oder die Losung „Wir sind das Volk“, oder aber die Stauffenbergs und Scholls, die vereinnahmt werden sollen: Immer geht es darum, emotional aufgeladene Symbole für sich zu gewinnen und neu aufzuladen. Das dürfen wir nicht weiter ohne Widerstand zulassen. Denn ein paar aggressive Demonstranten auf der Reichstagstreppe sind noch keine Gefahr die Demokratie. Ein nennenswerter Teil der Mitte allerdings, der demokratiefeindliche Erzählungen übernimmt, wäre ein riesiges Problem.

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