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Chile
Schwere Unruhen erschüttern die Hauptstadt

Präsident Piñera verhängt Ausnahmezustand in Santiago nach schweren Ausschreitungen
Unruhen in Santiago de Chile
In Santiago de Chile ist es zu schweren Unruhen gekommen, bei denen es auch Todesopfer zu beklagen gibt. © getty images

In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober kam es in Santiago de Chile zu schweren Unruhen. Bereits am 14. Oktober begannen hauptsächlich junge Studierende in mehreren Metrostationen zu randalieren, um ihren Unmut über eine Ticketpreiserhöhung für den Öffentlichen Nahverkehr kundzutun.

Seit letzter Woche wurde eine Ticketpreissteigerung in Höhe von 30 Chilenischen Pesos (CLP; umgerechnet 0,04 EUR) umgesetzt. Ein reguläres Ticket für einen Erwachsenen kostet anstatt 800 CLP (circa 1 EUR) nun 830 chilenische Pesos (1,04 EUR). Die Ticketpreisangleichungen werden jährlich regelmäßig von einer Expertenkommission des Transportministeriums festgelegt und berechnen sich aus festgelegten Parametern wie unter anderem der aktuellen Inflation und Kosten für Elektrizität. Vorherige Anhebungen der Metroticketpreise in der sozialistischen Vorgängerregierung von Michelle Bachelet führten zu keinerlei Demonstrationen. Der Staat subventioniert die Ticketpreise; die realen Kosten für die Finanzierung der Metro liegen um ein vielfaches höher. Außerdem investiert der Staat derzeit in eine massive Modernisierung von elektrischen Bussen.

Barrikade in einem Metroeingang in Santiago de Chile
Zahlreiche Metrostationen wurden Ziele der Unruhen. © UNO

In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober eskalierte die Situation und die Demonstranten stürmten neben den Metrostationen auch Geschäfte, eine Pizzeria und diverse Supermärkte, errichteten und entzündeten zudem Barrikaden mit Fahrrädern. Mittlerweile konstatieren die Behörden, dass 77 von 136 Metrostationen Schaden genommen haben, weshalb sämtliche Metrostationen vorrübergehend für das gesamte Wochenende geschlossen bleiben. Der entstandene Gesamtschaden wird gegenwärtig noch ermittelt. Eine Hochrechnung von umgerechnet 200. Mio. USD Gesamtschaden bis gestern Abend scheint sich nun jedoch um ein Vielfaches zu erhöhen, da in der Nacht die Gewalt zunahm und sich auch gegen Kleinbusse (sogenannte Mikros) und ein privates Elektrizitätsunternehmen richteten, das angezündet wurde. Die am heftigsten betroffenen Kommunen in Santiago sind Maipu, Puente Alto und Plaza Italia. Noch in der Nacht verhängte der chilenische Präsident den Ausnahmezustand in 37 Kommunen in Santiago und setzte das Militär ein, um die Situation zu ordnen und die Gewalt zu beenden. Medien berichten, dass es bei diesem Versuch bis Samstagmittag zu elf verletzten Zivilisten, 114 verwundete Polizisten und ca. 308 verhafteten Demonstranten kam. Mittlerweile wurden elf Tote gemeldet.

Nachdem einige Kleinbusse angezündet wurden und die Sicherheit der Fahrgäste gegenwärtig nicht gewährleistet werden kann, stellte Transantiago den gesamten Öffentlichen Nahverkehr im Zentrum ein.

Brennende Busse in Santiago de Chile
Bei den Ausschreitungen gingen auch zahlreiche Busse in Flammen auf. © El Comercio Peru

Neben dem Metronetz sind auch einige Straßen gesperrt. Viele Menschen bleiben aufgrund der anhaltenden Demonstrationen zuhause. Ob sich die Lage bis zum Montag beruhigen wird und die Metro zum Wochenanfang wieder in Betrieb genommen werden kann, war lange Zeit unklar. Mit vorübergehenden Sperrungen für einige Wochen aufgrund von Aufräumarbeiten in einigen besonders zerstörten Metrostationen sei auf jeden Fall zu rechnen.

Nach Befragungen der Demonstranten durch örtliche Medien wird schnell klar, dass die Ticketpreiserhöhung nur der Anlass aber nicht die tiefere Ursache der Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung ist. Diese prangern in Interviews mit Journalisten die Ungleichheit in der Bevölkerung an und fordern ein verbessertes Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem und eine schnelle Verbesserung ihres Lebensstandards. Ein weiterer Kritikpunkt ist die staatliche Korruption, obwohl Chile im Korruptionsindex seit Jahren nicht nur die niedrigsten Werte in Lateinamerika aufweist, sondern sich durchaus an westeuropäischen Standards messen lassen kann.

Die schweren Ausschreitungen in Chile überraschen vor allem, weil das Land mit seiner sehr stabilen Wirtschaft und niedrigen Arbeitslosenquote von sieben Prozent als Vorreiter in der Region gilt. Die Infrastruktur funktioniert, der Lebensstandard ist in den letzten Jahren für alle Chilenen deutlich gestiegen. Der Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung misst, bestätigt einen Rückgang der Ungleichheit in den letzten 30 Jahren. Gemäß CEPAL (Ökonomische Kommission für Lateinamerika und die Karibik) leben gegenwärtig 10,7 Prozent der Chilenen unter der Armutsgrenze. Im UN-Index der menschlichen Entwicklung wird Chile den „hochentwickelten Staaten“ zugerechnet und führt die Länder Lateinamerikas an – noch vor Uruguay. Dieser Wohlstandsindex berücksichtigt neben dem Brutto-Nationaleinkommen auch Lebenserwartung und Ausbildung.

Der aktuelle Präsident Sebastian Piñera kündigte für das Jahr 2019 zahlreiche ambitionierte Reformen an - insbesondere der Renten-, Steuer- und Sozialversicherungssysteme sowie bezüglich der Arbeitsmarktregulierung. Für die größte Diskussion sorgt derzeit das Thema der Flexibilisierung der Arbeitszeiten von Arbeitnehmern. Darüber hinaus sollen in naher Zukunft Gesetzesvorhaben zu den Themen Gesundheit und Bildung verabschiedet werden.

Die schnell geplante Umsetzung der neuen Gesetzesinitiativen stockt jedoch. Die aktuelle Regierungskoalition namens „Chile Vamos“ (Auf geht’s Chile) – zusammengesetzt aus den Parteien UDI, RN, Evopoli, PRI kann ihre Reformvorhaben in dem aus zwei Kammern bestehenden Nationalkongress gegen die oppositionellen mitte-links Parteien (Sozialistische Partei (PS) der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet, Kommunistische Partei (PC), Partei für die Demokratie (PPD), Christdemokratische Partei (DC) und die Radikale Partei sowie die extreme Linken-Koalition namens “Frente Amplio”) aufgrund der fehlenden Mehrheit nicht durchsetzen. Der Christdemokratischen Partei kommt hierbei eine besondere Rolle in der Opposition zu, da sie Diskussionsbereitschaft signalisiert hat, um die Durchsetzung der Regierungsreformen – unter der Bedingung der Nachverhandlung einiger Aspekte – zu unterstützen.

Eine schnelle Beendigung der Proteste ist ungewiss: Die Forderung des Präsidenten nach sofortigem Dialog wird seitens der Frente Amplio, der DC und PC verweigert, solange der Ausnahmezustand und damit die Präsenz des Militärs in den Straßen von Santiago nicht beendet wird. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Mitglieder des Kabinetts Piñeras in den letzten Monaten mehrere unpassende Äußerungen abgeben haben, die weder Empathie noch Bürgernähe gezeigt haben. Viele Kritiker sehen in dieser Haltung auch einen Grund für die jetzige Eskalation.

Eine schnelle Lösung ist für Chile unabdingbar, die Hauptstadt wird im November Gastgeber unter anderem für die COP25 Conference of Parties zum Klimawandel und der APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) sein.

Zieht man in diesem Zusammenhang auch die jüngsten Entwicklungen in Ecuador, wo es letzte Woche zum Ausnahmezustand nach schweren Gewaltausschreitungen meist linker und indigener Gruppierungen kam, in Bolivien und Argentinien, wo in den nächsten Wochen entweder linke Regime bestätigt (Bolivien) oder in Regierungsverantwortung zurückkehren werden (Argentinien), so könnte man von „Argentinisierung“ in Lateinamerika sprechen. In den erwähnten Ländern, hinzufügen müsste man noch Venezuela, haben sozialistische Regime jahrelang, in Argentinien sogar jahrzehntelang durch staatliche Subventionen und einen überbordeten Sozialstaat, die Bevölkerungen weit über ihrem tatsächlichen Lebensstandard leben lassen, notwendige Wirtschafts- und Sozialreformen verdrängt beziehungsweise verhindert. Gleichzeitig haben die sozialistischen Machthaber ihr Land selbst ausgebeutet, nicht geringen privaten Reichtum angehäuft und diesen ins Ausland transferiert. Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden im Falle Argentiniens in der Vergangenheit nicht zurückgezahlt beziehungsweise deren Rückzahlung verweigert und die mit dem Kredit verbundenen Reformen, selbst unter der neuen konservativ-liberalen Regierung Macris nach einem erneuten - und in der Höhe einmaligen IWF-Kredit nicht durchgeführt. In Ecuador kam es letzte Woche zu Ausschreitungen, weil die Regierung die Zusagen an den IWF einhalten und die entsprechenden Anpassungen vornehmen wollte. Gemeinsam ist den Ländern Lateinamerikas, dass sozialistische Regime jahrelang eine Misswirtschaft praktizierten, notwendige Reformen nicht durchführten oder verweigerten, was schließlich zu einer größeren Verarmung, im Fall Venezuelas und Boliviens gar zur Verelendung der Bevölkerung führte. Wenn nicht-sozialistische oder liberale Oppositionsparteien als Folge dieser Missstsände in die Regierung gewählt wurden und die entsprechenden sehr schmerzhaften Korrekturen vornehmen wollen, blockieren die sozialistischen Parteien diese und organisieren, wie im Beispiel Chiles oder Argentiniens sehr oft gewaltsame Proteste, auch wenn diese insgesamt nur eine Minderheit der Bevölkerung mobilisieren. Wie sehr dieses Muster zutrifft, zeigen auch die Reaktionen auf die jüngsten Ausschreitungen in Chile. Die sozialistischen Strömungen in Venezuela und Bolivien bemühten sich eiligst, der chilenischen Regierung bei deren Reaktionen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen, während die jahrelangen Verstöße auf diesem Gebiet in ihren beiden Ländern verdrängt, geleugnet oder als Manipulation imperialistischer Kräfte „verkauft“ werden. 

Zu den Unruhen in der Region äußerte sich auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)

Hernan Larrain, Vorsitzender der liberalen Partei EVOPOLI, zu den Unruhen in Santiago de Chile

Hernan Larrain, Vorsitzender der liberalen Partei EVOPOLI, zu den Unruhen in Santiago de Chile © vom 19/10/2019 von Maria Ignacia Galilea (Presidenta von Evopoli Juventud)