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Chile
Der Aufstand der frustrierten Mittelschicht

Gastbeitrag zu den Unruhen in Chile
Principal avenue in Valparaiso, just few meters from Chilean National Congress, place where people carrying stones in their hands, faced police special group, trying to gets Congress front gate.
Seit Wochen finden in Chile teils gewaltsame Demonstrationen statt. © picture alliance/ZUMA Press

Erst brannten die U-Bahn-Stationen, dann gingen Wohnungen in Flammen auf. Millionen Menschen protestieren auf den Straßen. Universitäten stellen den Lehrbetrieb ein, selbst Fußballspiele fallen wochenlang aus. Was passiert da gerade in Lateinamerika? Nahezu flächendeckend von Venezuela im Norden bis Argentinien im Süden brodelt es, sind Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft auf dem Rückzug dafür Populismus und Sozialismus auf dem Vormarsch. 

Ganz besonders die in europäischen Medien verbreiteten Bilder der Wucht und Masse von Gewalt und Demonstrationen verursachen Sprachlosigkeit. In Chile, dem lateinamerikanischen Vorzeigeland für eine erfolgreiche Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft wirken Wut und Zorn der Straßenproteste von außen gesehen wie aus der Zeit gefallen. Die Fakten bestätigen nämlich gerade für Chile zweifelsfrei, dass die Marktwirtschaft geliefert hat, was sie versprochen hatte. In den letzten drei Dekaden konnte die absolute Armut massiv reduziert werden. Der durchschnittliche Lebensstandard ist in Chile mittlerweile höher als anderswo in ganz Lateinamerika, die Masse der Bevölkerung lebt länger, gesünder und mit mehr Wohlstand als ihre Vorfahren. Aber trotz aller unstrittiger ökonomischer Erfolge herrscht ganz offensichtlich soziale Unruhe, die ebenso offenbar rasend schnell gewalttätige Eskalation provoziert. Wie lässt sich erklären, dass sich in Lateinamerika Demokratie und Marktwirtschaft so schwertun, obwohl sie in den letzten Dekaden nachweislich dafür sorgten, dass es der Masse der Bevölkerung besser geht als jemals zuvor und vor allem auch besser als mit Populismus und Sozialismus, die vorher lange Sein und Tun prägten.

Destabilisierung der Gesellschaft und Diskreditierung der Marktwirtschaft

Genaueres Hinsehen vor Ort verändert die Sicht der Dinge. Erkennbar wird, dass die zerstörende Gewalt auf der einen und die friedlichen Massenproteste auf der anderen Seite in Chile zwar nicht zufälligerweise zusammenfallen, aber sowohl von Ursache wie beabsichtigter Wirkung wenig bis nichts gemein haben. Die Gleichzeitigkeit der Brandanschläge auf siebzig U-Bahnstationen, flankiert von einer Vielzahl nadelstichartiger Anschläge auf andere Infrastruktureinrichtungen bis hin zu Cyberattacken zeugen von strategischer Planung, die von langer Hand geleitet, darauf abzielt, Chaos und Angst, Unsicherheit und Unfrieden zu schüren. Wieweit die Staatsgewalt provoziert werden sollte, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten, die Militärs zur Bewahrung von Ruhe und Ordnung zu mobilisieren und damit böse Erinnerungen an die Pinochet-Diktatur wiederzubeleben, bleibt Spekulation. Aber wer immer auch die Drahtzieher hinter den Brandstiftern sein mögen, geht es ihnen um Destabilisierung der Gesellschaft und Diskreditierung der Marktwirtschaft – das gilt nicht nur für Chile, sondern genauso für die gesamte Andenregion.

Gewissheit jedoch besteht, dass die Masse der Bevölkerung Gewalt ablehnt. Gerade in Chile erinnern sich die Menschen an die Erfahrungen des noch nahen Bürgerkriegs, wohlwissend, wohin eine Eskalation von organisierter Provokation und staatlicher Gegenreaktion führen kann. Und es ist besonders die Mittelschicht, die darunter leidet, wenn ausgerechnet jene U-Bahnen stillstehen, die benötigt werden, um aus den Vororten in die Stadtzentren zu fahren, um dort das für Überleben und Vorankommen unverzichtbare Einkommen zu erwirtschaften. Die Masse der Menschen will nicht Gewalt, sie will Wohlstand. Deshalb blieben die Millionen Menschen bei ihren Massenprotesten friedlich. Deshalb hat die große Mehrheit der Bevölkerung Sympathie dafür, dass der Staat für Ruhe und Ordnung sorgen soll, notfalls auch unter Mithilfe der Militärs. 

Die Frustration der Mittelschicht

Eine Analyse der Einkommensentwicklung und –verteilung aus der World Inequality-Datenbank bestätigt, dass es in Lateinamerika nicht um den alten Klassenkampf der Unter- gegen die Oberschicht geht, sondern um die Frustration der Mittelschicht. Die Einkommenssituation der ärmeren Hälfte der Bevölkerung hat sich seit Beginn des Jahrhunderts durchaus verbessert, genauso wie für die Oberschicht. Die Mittelschicht hingegen ist ausgepresst worden. Anders als in der übrigen Welt ist in Lateinamerika der Einkommensanteil der Mittelschicht am gesamten Volkseinkommen nicht gestiegen, sondern gefallen. Zwar hat sich auch deren Lebensstandard deutlich verbessert, aber eben bei Weitem nicht so sehr, wie für Ober- und Unterschicht. Das relative Zurückfallen ist der Nährboden, auf dem Frustration gedeiht, die wiederum in der breiten Mittelschicht Aggressionen wachsen lässt – oft sogar gegen beide Seiten, gegen oben in Form von Untreue gegen über (Steuer-)Gesetzen, gegen unten in Form einer Diskriminierung von Minoritäten. Wer weder ökonomisch noch gesellschaftlich jene Anerkennung findet, die er oder sie auf Grund der eigenen Leistung und Anstrengung erwartet, ist offen(er) für populistische Versprechungen, eine Instrumentalisierung durch Extremisten und zornig(er) gegenüber einem Wirtschaftssystem, das Unfairness zulässt. 

Die gute Nachricht die sich aus den Ereignissen in Lateinamerika ableiten lässt, ist, dass sich nun auch in den Andenländern bewahrheitet, was sich in Südostasien genauso bereits gezeigt hat: steigender absoluter Wohlstand lässt Menschen im Widerstand gegen eine ungleiche Verteilung des Wohlstands friedlicher werden – wer gerade erst aufgestiegen ist, weiß haargenau aus eigener Erfahrung wie sich absolute Armut anfühlt. Deshalb wird aus Frustration nicht gleich das gesamte Wirtschaftssystem in Brand gesteckt und damit gefährdet, was bereits erreicht wurde.

Die schlechte Nachricht jedoch bleibt, dass eine Mittelschicht, die gesellschaftlich von unten an gläserne Decken stößt, die sich ökonomisch unfair und vor allem auch vor Gericht nicht gleich wie die von oben behandelt fühlt, in hohem Maße anfällig ist für eine Instrumentalisierung von Interessengruppen, die ganz andere Ziele als das Gemeinwohl vorfolgen. Wer jedoch die Mittelschicht verliert, verliert das tragende Fundament des Gemeinwesens. Dann kann rasch aus lokalen Brandherden ein Flächenfeuer werden, das Vertrauen und Stabilität verbrennt, die jedoch unverzichtbare Voraussetzung für mehr Wohlstand für alle sind.

Versagen der politischen und gesellschaftlichen Elite

Was sich momentan in Lateinamerika abspielt, folgt keinem klassischen links-rechts-Muster. Es handelt sich nicht, wie von den Aggressoren suggeriert um einen Aufstand der Habenichte gegen ein Wirtschaftssystem, das einseitig nur die Oberschicht bevorteile. Vielmehr springt die Mittelschicht auf eine in Gang gesetzte Protestwelle auf, nicht um Marktwirtschaft durch Sozialismus zu ersetzen, sondern um ihre Frustration kundzutun und berechtigterweise mehr Teilhabe und Fairness einzufordern und zwar eben nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich.

In Lateinamerika versagt nicht die Marktwirtschaft, sondern die politische und gesellschaftliche Elite. Die Oberschicht hat es versäumt, die Mittelschicht weit stärker als bis anhin gesellschaftlich einzubeziehen, am wirtschaftlichen Erfolg zu beteiligen, individuelle Anstrengungen besser zu belohnen und bei Recht und Gesetz und vor Gericht alle gleich zu behandeln. Für Lateinamerika wäre es eine unfassbare Tragödie, wenn ein Politikversagen durch Brandstifter missbraucht würde, um eine von der Mehrheit weder gewollte noch gebilligte Abkehr von Demokratie und Marktwirtschaft und eine erneute Hinwendung zu Populismus und Sozialismus zu provozieren, die lange genug Armut und Ungleichheit verursacht und zementiert hatten.

Der Ökonom Thomas Straubhaar
Thomas Straubhaar © dpa

Kuratoriumsmitglied Straubhaar informiert sich über die Situation in den Andenländern

Vom 4. bis 15. November besucht das Mitglied des Kuratoriums und Mitglied des Programmausschusses, Prof. Dr. Thomas Straubhaar das Projekt Andenländer. Ursprünglich war die Reise als Experteneinsatz in Veranstaltungen zu den Themen “Menschenrechte“, „30 Jahre Mauerfall“, „Migration“, „Herausforderungen der Globalisierung“ in Chile, Ecuador, Bolivien und Peru geplant. Die aktuellen politischen Entwicklungen in den Andenländern erforderten jedoch einige Programmänderungen. Mussten die Veranstaltungen in Bolivien aus Sicherheitsgründen komplett abgesagt werden, so konnten sich Straubhaar und Projektleiter Jörg Dehnert bei ihrem Aufenthalt in Chile mit den Partnern des Projektes über die politische Entwicklung vor Ort direkt informieren. Besonders interessant war das Treffen mit dem parteipolitischen Partner EVOPOLI, bei dem Dehnert und Straubhaar sich mit der gesamten Führungsriege austauschen konnten. EVOPOLI stellt nach der Regierungsumbildung mit dem Finanzministerium, dem Innenministerium und dem Transportministerium drei wichtige, wenn nicht Schlüsselpositionen. Ist der Finanzminister gleichzeitig auch Stellvertreter des Präsidenten, so ist der Innenminister auch für die öffentliche Sicherheit zuständig. Die neue Transportministerin steht vor der großen Herausforderung, nach der nahezu kompletten Zerstörung des Systems der METRO in der Hauptstadt durch die ausufernde Gewalt in den ersten Tagen, die Mobilität des öffentliche Transportsystems so schnell wie möglich wiederherzustellen.

In den Gesprächen mit EVOPOLI und dem Treffen mit dem renommierten Think Tank „Fundacion para el Progreso“ (FPP) wurden auch die Rolle und der Einfluss linker Gruppierungen thematisiert. Wie sehr der Konflikt in Chile Europa schon direkt erreicht hat und von linken Gruppierungen instrumentalisiert wird, zeigt ein Vorfall in Zürich, wo mit Axel Kaiser ein prominenter Vertreter des Think Tanks FPP gewaltsam attackiert wurde.