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Bürgerrechte
Veto gegen das EU-Finanzpaket: Die EU-Grundwerte verdienen eine klare Sprache

Visegrad EU
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit den Premierministern der Visegrad-Staaten © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Francois Lenoir

Ungarn und Polen haben am Montag das historische Finanzpaket der EU in Höhe von 1,82 Billionen Euro blockiert. Damit wollen die rechtsnationalistischen Regierungen der beiden Länder verhindern, dass die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft wird. Währenddessen wird der vor Kurzem ausgerufene „Gefahrenzustand“ in Ungarn von der Regierung genutzt, um die Verfassung unter dem Vorwand der Corona-Pandemie erneut zu ändern und per Dekret zu regieren. Die neuen Gesetzesentwürfe schränken die Rechte von LGBTI-Personen ein, untergraben die Transparenz der Ausgaben staatlicher Gelder und verringern die Einflussmöglichkeiten der Oppositionsparteien bei den nächsten Parlamentswahlen.

Das Veto der Regierungen in Ungarn und Polen blockieren den Auszahlungsprozess von knapp 1,1 Billionen Euro für den EU-Haushalt sowie 750 Milliarden Euro für den Corona-Aufbaufonds. Dabei enthält das EU-Finanzpaket rund 23 Milliarden Euro für polnische und rund 6 Milliarden Euro für ungarische Bürger zur Bekämpfung der Corona-Rezession. Zudem sind Polen und Ungarn beide Hauptempfänger von EU-Mitteln und von der zweiten Pandemiewelle sehr stark betroffen.

Laut András Fekete-Győr, dem Vorsitzenden der ungarischen liberalen Partei Momentum ist „der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der als präventives Instrument der Veruntreuung von EU-Geldern und der Zerstörung der Demokratie vorbeugen soll, für den ungarischen Ministerpräsidenten inakzeptable, da dieser seit Jahren Steuergelder in das Eigentum seiner Familie überführt“. Fekete Győr ist der Meinung, dass Orbáns Schritt Europa in eine schwere Rezession versinken lasse und die Erholung der ungarischen Wirtschaft behindere, wenn es bei dieser Blockade bleibt. Die ungarische Justizministerin Judit Varga hingegen nennt die Verknüpfung des Haushalts mit dem Rechtsstaatsmechanismus eine politische Erpressung des Europäischen Parlaments und einiger Mitgliedstaaten.

Das sind starke Anschuldigungen. Es stellt sich die Frage, warum sich die ungarische Regierung gegen das Verfahren der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit so vehement wehrt? Die Antwort ist mehrschichtig: Orbán kämpft an mehreren Fronten. Das ungarische Gesundheitssystem ist in einem desolaten Zustand, die Oppositionsparteien werden stärker und sprechen öfter mit gemeinsamer Stimme und auch auf der internationalen Bühne werden die Forderungen lauter, Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit während der Pandemie nicht außer Acht zu lassen.

Orban wappnet sich für die nächsten Parlamentswahlen

Der nationalkonservativen Regierung von Viktor Orbán wird vorgeworfen, die Corona-Pandemie als Vorwand für eine Konsolidierung ihrer Macht zu nutzen und die Opposition im Land weiter zu behindern. Dies wurde schon während der ersten Welle im Frühjahr deutlich, als das ungarische Parlament, in dem Orbáns Partei Fidesz die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit hat, das Notstandsgesetz ohne Auslaufklausel verabschiedete.  

Am 10. November hat das ungarische Parlament aufgrund der sich verschlechternden Corona-Lage im Land ein weiteres Notstandsgesetz verabschiedet, das es der Regierung ermöglicht, 90 Tage per Dekret zu regieren. Wenige Minuten vor dem Inkrafttreten des Gesetzes hat die Regierung jedoch auch noch eine Reihe weiterer Gesetzentwürfe und Verfassungsänderungen ins Parlament eingebracht, die nichts mit Corona-Schutzmaßnahmen zu tun haben und unverhältnismäßig sind: So wurde eine Verfassungsänderung eingeleitet, die die Kontrollen bei der Überweisung öffentlicher Gelder an staatsnahe Stiftungen erleichtert. Die neuen Maßnahmen würden zudem bewirken, dass öffentliche Gelder, die in öffentliche Treuhandfonds fließen, für künftige Regierungen unantastbar sind.

Ein weiterer Änderungsantrag zielt darauf ab, die Rechte von LGBTI-Personen zu schwächen. Dem Antrag nach soll in der Verfassung festgelegt werden, dass das Geschlecht von Müttern weiblich und das von Vätern männlich sei. Indem sie eine Hetzkampagne gegen sexuelle Minderheiten führt, lenkt die ungarische nationalkonservative Regierung die Aufmerksamkeit von Korruptionsproblemen im eigenen Land ab.

Darüber hinaus hat die Regierung vor, das Wahlgesetz zu ändern, was die Koordinierung der Oppositionsparteien vor den kommenden Parlamentswahlen beeinträchtigt. Die Regierung von Viktor Orbán will mit der Änderung die Anzahl der Direktkandidaten erhöhen, die erforderlich ist, damit die Parteien bei den Parlamentswahlen eine landesweite Parteiliste haben. Laut Oppositionsparteien strebt die Regierung darüber hinaus danach, ein oppositionelles Wahlbündnis zu vereiteln.

Das ungarische Helsinki-Komitee sieht die Änderungsanträge der Regierung sehr kritisch. Laut einem Bericht der Menschenrechts-NGO würden die geplanten Änderungen die Rechte von LGBTI-Personen erheblich einschränken und die Transparenz des Staates und die Informationsfreiheit untergraben.

Im Kontext der Blockade des EU-Finanzpakets und des Streits um den EU-Rechtsstaatsmechanismus ist jedoch die eingeleitete Verfassungsänderung, mit der die ungarische Regierung die Definition von öffentlichen Geldern eingrenzen möchte, am bedeutsamsten. Es wird befürchtet, dass die neue Definition die Korruptionsbekämpfung im Lande erheblich erschweren könnte, weil die Finanzmittel staatsnaher Stiftungen der öffentlichen Kontrolle entzogen würden. Regierungskritiker befürchten, dass die Regierung durch diese Stiftungen in der Lage sein werde, öffentliche Gelder an ihre Freunde weiterzuleiten, indem sie diese in private Gelder umwandelt.

Bei der Verteidigung der Grundwerte der EU funktioniert die vage Sprache nicht

Man könnte behaupten, dass die EU nun den Preis für die nicht vollständige Beilegung des Rechtsstaatlichkeitsstreits während des Gipfels im Juli zahlt, als das milliardenschwere Corona-Hilfspaket und der siebenjährige EU-Finanzrahmen beschlossen wurden. Um nach langen Verhandlungen eine Einigung zu erzielen, waren sich die Staats- und Regierungschefs einig, dass die Auszahlung von Mitteln an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien verknüpft werden soll, ließen den Wortlaut jedoch offen für Interpretationen.

Die jüngsten Entwicklungen in Ungarn sind ein weiterer Beweis dafür, dass ein allgemeiner Verweis auf den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus nicht ausreicht. Die Verteidigung der EU-Grundwerte verdient klare und eindeutige Sprache.

Toni Skorić ist Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Länder im Stiftungsbüro in Prag.