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Buchrezension
„Mündig“: Punk, Hermès und Kant

Eine Hymne an die Mündigkeit
Mündig Poschardt

„Mündig“ – das neue Buch von Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe, ist ein Hammer. Es ist eine Zumutung und eine Freude zugleich, eine wilde, sprachartistische Karussellfahrt durch Philosophie, Popkultur, Filmgeschichte, Rennsport, durch die mentale Verfassung und die Debattenlage der Republik. Punk, Hermès und Kant, alle haben ihren Auftritt. Im Unterschied zur gängigen Krisenliteratur arbeitet sich Poschardt nicht brav an den großen Herausforderungen unserer Zeit ab. Klimawandel, digitale Revolution, globale Migration, autoritärer Populismus dienen eher als Material für das, worauf es ihm ankommt: ein flammendes Plädoyer für „Mündigkeit“ als innere Haltung und soziale Praxis. Mündig zu sein, bedeutet Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, den unbedingten Willen zum Selbst-Denken und den Mut zum Risiko. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die „Autorenschaft über die eigene Biographie.“

Poschardt singt eine Hymne auf das freie Individuum. Sein Gegenbild ist der Herdenmensch, der sich allezeit im Rahmen des Erwarteten und Erwartbaren bewegt: „Mündigkeit ist Widerstand gegen Kollektiv und Opportunismus.“ Diesen radikalen Individualismus exerziert er in sechzehn Rollenspielen durch, die zentrale soziale Kategorien widerspiegeln – mündige Träumer, Intellektuelle, Konsumenten, Unternehmer, Pädagogen, Demokraten etc. Das Kapitel über den „mündigen Mann“ ist ein rauschender Abgesang auf das Patriarchat; im Spiegelkapitel über die „mündige Frau“ feiert Poschardt Greta Thunberg und die Garde der jungen Aktivistinnen als Vorbilder einer neuen, coolen Frauengeneration. Ihre Rigidität und Unbedingtheit imponieren ihm. Das passt nicht unbedingt zu seiner ätzenden Polemik gegen geschlossene Weltbilder und die Moralisierung von Journalismus und Politik, zu seinem Lob des Zweifels und des Aushaltens von Widersprüchen. Aber es passt zu seiner Bewunderung für die starken Einzelnen, die unbeirrbar ihre Bahn ziehen. 

Skater als Vorbild

Poschardts Begriff von Mündigkeit hat etwas Aristokratisches – nicht im Sinne eines sozialen Status, sondern einer Haltung. Mündigkeit setzt Bildung, Selbst-Kultivierung, Stilsicherheit, Mut, Unabhängigkeit voraus, ja sogar „Härte, Disziplin und Schmerzunempfindlichkeit“. Das erinnert von fern an Nietzsche, wird aber – eine der vielen verblüffenden Fundstellen des Buchs – aus der Figur des Skateboarders abgeleitet. Der Skater verwandelt die Unwirtlichkeit der modernen Stadt in einen Freiraum für seine akrobatischen Experimente. Er schiebt beständig die Grenzen des Machbaren hinaus. Wie der Rennfahrer erlebt er die höchste Freiheit im Moment des Risikos. Er ist damit das Gegenbild zur Vollkasko-Mentalität der sozialstaatlich sedierten Gesellschaft, die möglichst viel Verantwortung vom Einzelnen an den Staat überträgt – auch das eine Überspitzung mit einem wahren Kern. 

Hier wie auch anderswo ist Poschardt in Gefahr, von der Drift seiner Polemik aus der Kurve getragen werden. Er neigt dazu, die gesellschaftliche Bedingtheit von Freiheit zu übersehen. Die Freiheit von Furcht ist die Mutter aller Freiheit. Dazu gehört nicht nur ein Rechtsstaat, der vor willkürlicher Gewalt schützt – Poschardt fordert zu Recht, dass Liberale „Law & order“ nicht den Konservativen überlassen sollten. Gelebte Freiheit braucht vielmehr auch Garantien gegen den sozialen Absturz sowie leistungsfähige öffentliche Institutionen, von Kindergärten über das Bildungssystem bis zum Gesundheitswesen.

Maximum an Selbstverantwortung erforderlich

Die Corona-Krise hat in brutaler Härte die Abhängigkeit des Einzelnen von gemeinschaftlichen Institutionen gezeigt. Sie erfordert ein Maximum an Selbstverantwortung und zugleich drastische kollektive Regeln, die tief in die individuelle Freiheit eingreifen. Und sie führt uns vor Augen, dass die gleiche Freiheit aller in komplexen Gesellschaften eben nicht nur gegen staatliche Gängelung verteidigt, sondern durch den Staat geschützt werden muss. 

Ein moderner Liberalismus, der die Antinomie zwischen Ich und Wir, Freiheit und Sicherheit überwindet, muss auch nicht auf ewig in der Position einer heroischen Minderheit verharren, in der ihn Poschardt verortet. Mit seiner Unterscheidung zwischen dem gleichmacherischen Kollektiv und der Gemeinsamkeit autonomer Subjekte, „die sich für die Sache der Freiheit zusammenfinden“, stößt er selbst die Tür ins Freie auf. 




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Ralf Fücks ist geschäftsführender Gesellschafter des „Zentrums Liberale Moderne“, eines überparteilichen Think Tanks in Berlin. Er leitete viele Jahre die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung.