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Brexit
Einheitsfront Europa?

Der Brexit-Preis fällt für die EU-Länder sehr unterschiedlich aus. Damit sind neue Spannungen vorprogrammiert.

Vor wenigen Tagen unterbrach die britische Premierministerin Theresa May überraschend ihren Italienurlaub und besuchte den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in dessen Feriendomizil an der Côte d'Azur. Es sah wie ein Hilferuf aus – zu Beginn des sommerlichen Brexit-Breaks, bevor die harten Verhandlungen in Brüssel ab September so richtig losgehen. Tatsächlich ist die Lage sehr ernst, und zwar für alle Beteiligten. Ohne Brexit-Einigung könnten die EU und das Vereinigte Königreich auf ein politisches Desaster zusteuern, das größte in der Geschichte der EU. Die Aussicht darauf wird auch die Europäer auf dem Kontinent auseinandertreiben. So sieht es unser stellv. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Paqué in seinem zweiten Brexit-Break-Beitrag.

Ein Horrorbild! Nur so lässt sich das Szenario nennen, das der angesehene Londoner ECONOMIST in seiner letzten Ausgabe für den Fall eines „Hard Brexit" ohne vertragliche Einigung zwischen Vereinigtem Königreich und EU entwarf.

Es betrifft natürlich zu allererst die britischen Inseln selbst: Ohne Ausstiegsvertrag fällt das Vereinigte Königreich auf WTO-Status zurück. Dies hört sich harmlos an, hat aber gewaltige wirtschaftliche Folgen: Wegfall von etwa 50 EU-Handelsabkommen mit Drittländern einschließlich Zugriff auf EU-Exportquoten; Wegfall von EU-Lebensmittelkontrollen und Sicherheitsstandards (etwa bei Flugverkehr und Gesundheit); Einführung von Zöllen und neuen Zollformalitäten (mit geschätzten Kosten von 20 Milliarden Pfund); Zerstörung etablierter innereuropäischer Wertschöpfungsketten etwa in der Automobilproduktion und bei Supermärkten. Noch dramatischer ist die zentrale politische Konsequenz: eine „harte" Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Irlands, also die Rückkehr zu einer Welt vor dem „Good Friday Agreement" von 1998. Sie wäre für die EU rechtsstaatlich zwingend, denn sie müsste zur Sicherung ihrer eigenen Außengrenzen darauf bestehen.

All dies hört sich absurd an, gerade weil das doch eigentlich niemand will. Übrigens auch nicht die Brexiteers im Vereinigten Königreich, die ja – anders als Donald Trumps Amerika –  instinktiv für Freihandel stehen. Es könnte aber dazu kommen, wenn die EU sich auf den selbstzufriedenen Standpunkt stellt: „Ihr, liebe Briten, habt für den Brexit votiert, ihr habt es nicht anders gewollt, Ihr nehmt den Schaden zumindest billigend in Kauf." In gewisser Weise ist dieser Standpunkt sogar nachvollziehbar. So zeigt eine jüngste Studie des IMF, dass Großbritannien mit einem Einbruch des BIP um rund vier Prozent rechnen müsste, die EU als Ganzes dagegen nur mit 1,5 Prozent – und dies über mehrere Jahre gestreckt und sehr ungleich verteilt, wobei die engsten geographischen Nachbarn und wirtschaftlichen Partner des Vereinigten Königreichs die stärksten Verluste hinnehmen müssten: vorneweg Irland, gefolgt von den Niederlanden und Dänemark sowie Belgien, Tschechien, Schweden, Ungarn und Deutschland.

Die Folgen eines harten Brexit für Europa.
© The Guardian / Quelle: IMF

Auf den ersten Blick also eine überaus starke Verhandlungsposition der EU. Ein zweiter tieferer Blick lässt allerdings daran zweifeln. Es geht nämlich um weit mehr als das Verteilen von ökonomischen Lasten im Falle des „worst case". Es geht um die Frage, wie man mit einem langjährigen Partner umgeht, der es aufgrund eigener Fehler und gewaltiger interner Zerrissenheit derzeit schwer hat, die Zentrifugalkräfte der politischen Dynamik zu bändigen.

Es gibt große innereuropäische Unterschiede in der Verbundenheit mit den Briten.

Karl-Heinz Paqué, stellv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung für die Freiheit
Karl-Heinz Paqué

Hier gibt es große innereuropäische Unterschiede in der Verbundenheit mit den Briten. Diese werden sich umso mehr zeigen, je näher man tatsächlich an ein Scheitern der Verhandlungen heranrückt. Sollte die EU-Verhandlungsleitung unter Michel Barnier allzu unbekümmert mit der „gesicherten" Rückfallposition eines vertragslosen „Hard Brexit" spielen, könnte es sehr schnell zu äußerst kritischen Reaktionen jener Länder kommen, denen die Brücke zu Großbritannien historisch, politisch und wirtschaftlich überaus wichtig ist, noch wichtiger jedenfalls als die Beziehungen zum romanischen und mediterranen Raum. Es könnten plötzlich sogar Bruchlinien verstärkt werden, die sonst nur bei anderen Themen aufleuchten - so etwa das Nord/Süd-Gefälle in der Eurozone, wo der stabilitätsorientierte Norden viel eher britische Freihandelsinstinkte teilt als der Süden. Selbst zwischen Frankreich und Deutschland könnte es neue Spannungen geben: zwischen dem dirigistischen Zentralismus der "Grande Nation" Frankreich und der marktwirtschaftlichen Pragmatik der Wirtschaftsmacht Deutschland.

Die Brexit-Diskussion enthält also einen gewaltigen politischen Sprengstoff. In gewisser Weise kehrt mit ihr jene alte Kontroverse zurück, die in den späten 1950er und 1960er Jahren die bevorstehende Aufnahme Großbritanniens in die EU über Jahre begleitete: zwischen „Atlantikern" und „Europäern", wobei die Atlantiker eher auf einem Europa als „offenem Club" bestanden, die „Europäer" dagegen auf einer „engen Familie". Wie damals wird es auch diesmal darum gehen, einen vernünftigen Mittelweg zwischen beiden Positionen zu finden, eine Art Europa der variablen Geometrie, in der sich beide Seiten wiederfinden könnten. Warum nicht eine Art „enger offener Club", der die Zusammenarbeit dort sichert, wo sie für alle nützlich ist?

Dies kann realistischerweise nur heißen: „Soft Brexit". Nur so lässt sich vermeiden, dass Großbritannien gedemütigt aus der EU ausscheidet und sich verbittert anderweitig orientiert, so wie es Timothy Garton Ash in seinem jüngsten Beitrag im GUARDIAN als Negativszenario treffend beschrieben hat. Die Politik muss jedenfalls einer neuen Spaltung auch der EU vorbeugen – zwischen jenen Nationen, die sich den Briten eng verbunden fühlen, und jenen, denen die Geschichte eine andere Rolle zugedacht hat.