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Brexit
Brexit-Verhandlungen gehen in den Tie-Break

Theresa May
Unter Druck: Premierministerin Theresa May © Raul Mee/CC BY 2.0

Während eine halbe Million Menschen in London gegen den Brexit demonstrieren, bringt auch der jüngste Europäische Rat keine wirklichen Ergebnisse. Noch liegt der Ball im britischen Feld, könnte aber bald mit Wucht zurück nach Brüssel gespielt werden.


Bei den Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat es auch beim vermeintlich abschließenden Gipfeltreffen zu diesem Thema keine Fortschritte gegeben. Zwar deutete EU-Verhandlungsführer Michel Barnier seine Bereitschaft an, die zweijährige Übergangsphase notfalls zu verlängern, doch ohne „Deal“ wird diese Periode nicht einmal beginnen. Theresa May behauptet stoisch, der Inhalt des Austrittsabkommens sei zu 95% vereinbart. Solange die verbleibenden fünf Prozent allerdings die ungelöste Nordirland-Frage betreffen, gibt diese Zahl kaum Anlass zu Optimismus.

In Brüssel wartet man nun auf neue Vorschläge und hält sich die Einberufung eines Sondergipfels im November offen. So verliefen die Verhandlungen meistens während der vergangenen 19 Monate. Die Europäische Kommission kommunizierte nachvollziehbar und klar ihre Bedingungen; es dürfe vor allem keine Grenzinfrastruktur auf der irischen Insel geben und die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes seien unteilbar.

Die EU darf stolz darauf sein, dass sie und ihre verbleibenden 27 Mitglieder diese Verhandlungsposition bisher konsequent vertreten hat und ihrem außenpolitischen Anspruch gerecht wurde: Sie sprach endlich mit einer Stimme. Kein Mitgliedsstaat unterlag bisher der Versuchung, zugunsten eigener Vorteile aus dieser Verhandlungsfront auszubrechen oder gar die Autorität der Kommission als Verhandlungsführerin in Frage zu stellen. Ironisch ist, dass sich diese Teamleistung schwerlich als Erfolg kommunizieren lässt: Letztlich geht es weniger um die spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse der Unionsbürger als um die Abmilderung absehbarer Schäden.

In London rang man während der Verhandlungen stets um eigene Antworten und war gefangen durch zahlreiche Zielkonflikte. Der Ball, regelmäßig souverän aus Brüssel retourniert, blieb hier meist lange liegen. Das könnte sich jedoch bald ändern. Der Ball könnte mit viel Wucht nach Brüssel zurückkommen und die Verhandlungsfront der Europäer auf eine harte Probe stellen. Dies deutete der Vorsitzende der Liberal Democrats Vince Cable bei seinem Besuch in Brüssel indirekt an.

Das bedeutendere Ereignis in den Tagen des EU-Gipfels war nicht der EU-Gipfel selbst, sondern eine Demonstration von 500.000 Menschen, die in London friedlich für ein „people‘s vote“ über ein eventuelles Austrittsabkommen demonstrierten. Die gleichnamige Organisation fordert ebenso wie die Partei der Liberal Democrats nicht etwa ein zweites Referendum, wie in deutschen Medien immer wieder zu lesen ist, sondern eine neue Abstimmung auf Grundlage eines (oder keines) möglichen Austrittsabkommens. Die people’s vote soll bewusst nicht als Korrektur des Referendums von 2016, sondern als neue und eigenständige Abstimmung verstanden werden.

Diese Botschaft brachte auch Vince Cable diese Woche mit, als er nach Brüssel reiste, um Michel Barnier zu treffen. Die EU „solle sich eher auf ein ‚People’s Vote‘ als auf einen Austritt ohne ‚Deal‘ einstellen“, so Cable. Die Hindernisse zur Organisation eines weiteren Referendums sind nach wie vor beträchtlich. Cable wirbt jedoch zu recht dafür, dass die EU sich schon jetzt mit den schwierigen Entscheidungen beschäftigen sollte, die auf sie zukommen könnten. Dazu seien hier beispielhaft drei Szenarien skizziert.

Erstens könnten die Verhandlungen im Dezember als endgültig gescheitert erklärt werden. Ein „No Deal-Szenario“ stünde dann binnen weniger Monate bevor. Ab dem 30. März müsste es Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland geben, jeglicher Flug-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr wäre nachhaltig gestört. In diesem Fall könnte die britische Regierung eine Verlängerung des Artikel 50-Verfahrens und damit eine Verschiebung des Austrittsdatums beantragen. Sie wäre dann allerdings auf die Zustimmung jedes einzelnen der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten angewiesen. Deren Zustimmung ist alles andere als selbstverständlich. Die Verhandlungen hätten dann schon zwei Jahre lang Ressourcen gebunden und für Unsicherheit gesorgt. Wie wahrscheinlich erschiene eine Einigung in der „Nachspielzeit“? Blockiert ein Mitgliedsstaat die Verlängerung, trüge er jedoch Mitverantwortung für die Folgen eines ungeregelten Brexit.

Zweitens könnte in den nächsten Wochen ein Abkommen geschlossen werden, das dann jedoch an der Zustimmung des britischen Unterhauses scheitert könnte. Dort diskutieren die Abgeordneten gerade die Modalitäten ihres Abstimmungsverfahrens. Viele monieren, dass eine einfache Ja/Nein-Entscheidung unverantwortlich sei. Ein neuer Vorschlag sieht daher ein so genanntes Smorgasbord-Votum vor. Die Abgeordneten würden zunächst unverbindlich über verschiedene Brexit-Modelle abstimmen und erst am Ende über den tatsächlich ausgehandelten Vertrag. Sollte der Vertrag abgelehnt werden, wüsste man immerhin, welches andere Modell eine Mehrheit im Commons hätte. Die Europäische Union wäre dann unter Druck, diese alternative Lösung im Eiltempo zu verhandeln, um einen chaotischen Austritt abzuwenden.

Drittens ist eine weitere Volksabstimmung, also ein „People’s vote“ denkbar, bei dem sich eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU ausspricht. Wie bei der Verlängerung des Art. 50-Verfahrens wäre das Vereinigte Königreich dann wieder auf die Zustimmung aller anderen 27 Mitgliedsstaaten angewiesen. Wie Fabian Zulegg von der Denkfabrik European Policy Center (EPC) anmerkt , sollte man diese Zustimmung jedoch nicht als gegeben betrachten. Die EU-Mitgliedsstaaten dürften sich bewusst sein, dass die britische Gesellschaft, ebenso wie die beiden größten Parteien Tories und Labour, in der Brexit-Frage zutiefst gespalten sind. Sollte ein Referendum im Jahr 2019 ein anderes Ergebnis haben, als das ursprüngliche im Jahr 2016, so wäre die Mehrheit wahrscheinlich erneut eine knappe. Wer garantiert den verbleibenden 27 Staaten also, dass das Vereinigte Königreich mittelfristig nicht erneut ein Austrittsverfahren in Gang setzt?  Zulegg vermutet, dass einige Mitgliedstaaten ein „Ende mit Schrecken“ gegenüber einem „Schrecken ohne Ende“ bevorzugen.

Sollte die Durchsetzung eines „People’s vote“ tatsächlich gelingen, müssten die britische Regierung und die britische Gesellschaft daher ein klares Bekenntnis zur EU senden. Eine halbe Million Menschen haben durch ihre beeindruckende Demonstration in London den ersten wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen.  Das gibt zumindest Anlass zu Optimismus. Die EU-Kommission sollte sich ebenso wie die nationalen Regierungen auf die genannten Szenarien vorbereiten und alles daran setzen,  in den Verhandlungen weiter als „Team Europa“ aufzutreten.