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„Bis es die ganze Welt weiß“

Sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen in Marokko
Demonstration in Casablanca

Demonstration in Casablanca gegen sexuelle Belästigung.

© Forum de la Citoyenneté

Sexuelle Belästigungen einer Frau in Jeans und T-Shirt in Tanger, ein sexueller Gruppenangriff auf ein Mädchen in einem Linienbus von Casablanca – eine Nachricht schlimmer als die andere taucht derzeit in sozialen Medien auf und sorgt für Aufruhr, Empörung und teils Verhaftungen. Den Vorfällen waren andere vorausgegangen, ohne dass es zu ernsthaften Konsequenzen gekommen war. Jetzt aber scheint es den Marokkanern zu viel zu werden.

Als Ende Juli ein Zehn-Sekunden-Video einer jungen Frau in Jeans, verfolgt von einer johlenden Horde junger Männer, ins Netz gestellt wird, ist das Thema sexuelle Belästigung entfacht. Internetuser und Menschenrechtsorganisationen verurteilen den Vorfall. Die Polizei spielt ihn herunter: nur das Ende einer Veranstaltung, von dem junge Menschen auf die Straße strömen. Nicht so die Bürger: Nunmehr diskutieren Marokkaner in den sozialen Medien, und das heißt hierzulande vor allem Facebook, Youtube  und Internetportale. „Sexuelle Belästigung, ein Volkssport in Marokko?“ titelte zum Beispiel ladepeche.ma. Ein gepostetes Video sexueller Gruppengewalt gegen ein Mädchen in einem Linienbus von Casablanca heizte die Debatte nun zusätzlich an: „Ein eklatantes Scheitern einer ganzen Gesellschaft“ twittert eine Userin. Auf die Empörung hin wurden sechs junge Männer zwischen 15 und 17 Jahren verhaftet, es kommt zu Demonstrationen.

Nach offiziellen Zahlen des marokkanischen Menschenrechtsrats sind 6,2 Millionen der gesamt 17 Millionen Marokkanerinnen Opfer von Gewalt geworden und haben dann staatliche Dienste (Polizei, Krankenhaus etc.) in Anspruch genommen. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, besonders im Bereich der Prostitution, da sie verboten ist und Prostituierte keine Hilfe von der Polizei erwarten dürfen, sondern noch eher eine Anklage fürchten müssen.

Die Straße gehört dem Mann

Ziel von sexueller Aggression sind überwiegend alleinstehende Frauen (53%, geschieden 23%, verheiratet 20%). Eine Altersgrenze gibt es dabei nicht. So wurde beispielsweise der Fall einer 13-jährigen in der Küstenstadt Safi bekannt, die zusammen mit ihrer Mutter eingekreist und vom Mob wegen des Tragens von Shorts belästigt wurde. Angriffe richten sich aber besonders auch gegen Angehörige von sexuellen Minderheiten (LGBTI), wie beispielsweise der Lynchversuch an einem vermeintlichen Transvestiten in Fès im Jahr 2015 zeigt.

Kulturkampf auf den Straßen Marokkos

Kulturkampf auf den Straßen Marokkos

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die Gewalt geht in erster Linie von Männern aus (88%), aber auch Frauen greifen Frauen an (11%). Dabei gehört die Straße grundsätzlich dem Mann: Über 66% aller sexuellen Belästigungen und Gewalt ereignen sich im öffentlichen Raum, zwölf Prozent zuhause und sechs Prozent am Arbeitsplatz. Aber nur für den letzten Fall gibt es eine gesetzliche Handhabe. Seit Jahren kritisieren Menschen- und Frauenrechtler, dass weder Vergewaltigung in der Ehe noch sexuelle Belästigung auf der Straße strafbar sind. „Das Gesetz wird seit 2013 verschleppt. Nach der Abstimmung im Unterhaus 2015 warten wir immer noch darauf, dass das Oberhaus dies weiterverfolgt und abstimmt, damit [...] Kriminelle, Belästiger, Gewalttäter gegen Frauen gerichtlich verfolgt werden können.“, fordert Khadija El Morabit, Präsidentin des International Network of Liberal Women Sektion Marokko (INLW) und Partnerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Das ist umso wichtiger, da bislang ein Vergewaltigungsopfer nach islamischem Recht ebenso auch Komplizin eines illegitimen, weil außerehelichen Geschlechtsverkehrs sein kann und ein Vergewaltiger seinerseits lediglich ein Komplize daran.

Die Straße kann Gesetze ändern

Die derzeitigen Diskussionen im Netz und Demonstrationen auf der Straße könnten nun dazu beitragen, dies zu ändern. In einem anderen Vorfall hatte dies funktioniert: Der Paragraph, der es Vergewaltigern ermöglichte, durch Heirat des Opfers seiner Strafe zu entgehen, wurde 2014 abgeschafft. Vorausgegangen war 2012 der Selbstmord von Amina El Filali, die ihren Vergewaltiger und Freund der Familie als dann 16-jährige hätte heiraten sollen, nachdem sich die beiden Familien darauf geeinigt hatten, um „öffentlicher Schande“ zu entgehen. Amina entging beidem durch Einnahme von Rattengift.

Aber die Gesetzeslage allein ändert noch nicht alles. So hatte sich ein 16-jähriges Opfer einer Gruppenvergewaltigung in Ben Guerir selbst verbrannt, nachdem ihre acht Peiniger „durch einflussreiche Personen“, so die Menschenrechtsorganisation Association marocaine des droits humains (AMDH), freigekommen waren und sie dann mit Fotos und Videos von der Vergewaltigung erpressten.

Das „Schamgefühl“ der Straße

Die Mentalität der überwiegend männlichen Richter wie auch der Männer im Allgemeinen definiert ihre eigene Ehre über die Frau; Ehrverletzungen sind gemäß dieser Logik daher immer die Schuld der Frau. Viele rechtfertigten dementsprechend sexuelle Belästigung mit „Wir sind halt in Marokko“, beschreibt die Professorin Nadia*, Mitglied einer Frauenorganisation, die häufigen Reaktionen auf ihre Aufklärungsarbeit. Während viele Marokkaner und Marokkanerinnen jedoch nun über die im Netz geposteten Auswüchse dieser Denkweise schockiert sind, scheuen sich manche Facebookmitglieder nicht, ganz ungeniert und mit vollem Namen Frauen die Schuld zu geben: Das Mädchen im Linienbus habe die sexuelle Gruppengewalt gegen sie selbst heraufbeschworen, weil sie nicht „züchtig“ gekleidet gewesen sei. Diese „Schlampe“ müsse vor Gericht gestellt werden, nicht die Übeltäter. Was dieser FB-User aktuell fordert, geschah im Juli 2015 tatsächlich: Damals waren zwei Mädchen im Minirock wegen „Beleidigung des Schamgefühls“ vor Gericht angeklagt worden, nachdem eine Meute junger Männer sie in Inezgane bei Agadir sexuell belästigt hatte. Die beiden Frisörinnen konnten in einen Laden flüchten und wurden dann von der Polizei gerettet. Frauenrechtlerinnen sahen ihren Freispruch als „modern“ und würdigten an der Verhandlung, dass man nicht in eine Debatte über Kleidung verfallen sei. Doch dieses Bild der Frau, die sich verhüllen soll, kritisiert der Soziologe, Schriftsteller und Philosoph Muhammad Ennaji – und klagt unter dem Titel „J’accuse“  jetzt explizit Machthaber und Islamisten an, die es geschaffen haben. „Der Dämon, das sind Sie, die die Frau beschuldigen; der Teufel, das ist nicht die Frau, das sind Sie, die die Frauen beleidigen und im großen Maße Hass verbreiten.“

Der Weg zum Licht

Schuld seien in der Tat die Frauen, meint aber eine marokkanische Bloggerin – allerdings sarkastisch: Sie sieht Frauen mitschuldig, weil sie schwiegen. Allmählich bessert sich dies allerdings, wie auch die derzeitige Empörung beweist. Mehr und mehr kommt Gewalt gegen Frauen zur Anzeige, wie die Daten des Stiftungspartners Centre de Droits de Gens (CDG) zeigen. Zudem geben soziale Medien Frauen einen Artikulationskanal, der wirksamer als klassische Medien Tabuthemen zur Sprache bringen und anprangern kann. In der marokkanischen Gesellschaft werden Frauen über das Wort „sch’huma“ (arab-dialektal „Schande“) oft zum Schweigen gebracht.

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Mehr und mehr kommt Gewalt gegen Frauen zur Anzeige

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die „Youtubeuse“ Lina Bikiche will dieses Schweigen in ihrer Parodie des Liedes „Let Go“ von Saad Lamjarred offensiv ändern. Dieser bekannte marokkanische Sänger war erst 2010 in den USA und dann 2016 in Frankreich wegen Vergewaltigung angeklagt worden und trägt nun in Paris eine elektronische Fußfessel: „Du hast vergewaltigt, warst betrunken, hast alles vergessen. Aber wir haben nichts vergessen. Nichts! Nichts! Wir machen einen Skandal, bis alle Welt davon weiß“, singt die 27-jährige marokkanische Studentin in ihrem Kanal (jetzt allerdings wegen Urheberrechte des parodierten Lamjarred gesperrt, aber bei ladepeche noch zu sehen). Trotz seiner Vergehen ist der Sänger weiterhin – mehrheitlich bei Mädchen – sehr beliebt. Ein weiblicher Fan soll gar während der Gerichtsverhandlung mit einem Schild „Du hättest mich vergewaltigen sollen“ demonstriert haben. Auch die vielfältigen „Je suis Saad Lamjarred“ Solidaritätsbekundungen tragen zum Irrglauben mancher junger Marokkaner bei, dass Vergewaltigung nicht so schlimm sei. „Warum für Frauenrechte kämpfen, wenn ein (mutmaßlicher) Vergewaltiger die Unterstützung hoher Staatskreise, von Journalisten, Künstlern, Männern, Frauen und Kindern unseres Landes erhält? Was soll man von einem Land erwarten, das ein mutmaßliches Opfer verdammt, durch seine parteiische Presse beleidigt, einschüchtert, lyncht, diffamiert?“ fragte Bloggerin Majda El Krami damals.

Der Pfad der Veränderung

Auch für den Intellektuellen und Partner der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Salah El Ouadie kommt die „Monströsität“ nicht aus dem Nichts. „Jede Stunde mit einem anderem Bild oder einer anderen Form in der Gestalt eines Monsters, das wir kaum sehen, bis wir plötzlich den Brechreiz kriegen.“ Die Frage nach der Schuld beantwortet der Professor und Präsident des Think Tanks Damir (arab.: Gewissen): „Wer toleriert die Gewalt gegen Frauen? Das sind wir. Wer belästigt Frauen sexuell und verschleiert sie gleichzeitig, auch wenn sie noch kleine Mädchen sind? Das sind wir.“ Aber für El Ouadie steht die Frage in einem größeren Zusammenhang, denn er fragt weiter: „Wer verstößt jeden Tag gegen das Straßenverkehrsrecht? Das sind wir. Wer sucht dauernd Lösungen außerhalb des Gesetzes? Das sind wir. [...]“  Derzeitig zeigt sich für den liberalen Denker in Marokko eine Kultur in Auflösung, die ein gesamtgesellschaftliches und politisches Engagement und Verantwortung erfordert: „Wenn es uns nicht gelingt sie strukturiert zu ändern, wird es niemand an unserer Stelle tun.“

Salah El Ouadie

Salah El Ouadie

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die Herausforderung, die Salah El Ouadie und andere Vertreter der Zivilgesellschaft und Medien jetzt fordern, ist gewaltig und schwierig. Geht es doch um nichts anderes als die Erziehung eines ganzen Volkes zu Respekt vor dem Individuum und Selbstverantwortung. Schon allein die nur sehr zögerlichen Reaktionen aus der Politik zeigen, dass bei der von Islamisten geführten Regierung keine große Bereitschaft für Initiativen hin zu einer offenen Gesellschaft zu erwarten ist. Zumal die Islamisten, ob nun die moderate Regierungspartei Parti de la Justice et du Developpement (PJD), die verbotenen, aber tolerierte Al Adl wa’l Ihsane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) oder extreme Islamisten (Marokko ist zweitgrößtes Rekrutierungsland des IS), das derzeitige Bild der Frau mit geschaffen haben. Zwar tragen viele Frauen den Schleier nicht aus religiösen Gründen, sondern nur um sexueller Belästigung zu entgehen, behauptet Frauenrechtlerin Nadia im Nouvel Observateur. Doch diese Heuchelei ist den religiös-politischen Kräften gleichgültig. Erneut geht es um die politische Symbolkraft des Schleiers, erneut wird ein Kulturkampf auf dem Rücken der Frau ausgetragen; denn in den Augen der Islamisten sind die zivilgesellschaftlichen Aktivisten Handlanger des Westens, der ehemaligen Kolonialisten, die jetzt indirekt „den Islam“ klein halten wollen, indem sie die „islamischen Werte“ zerstören. Zur Aufrechterhaltung des Glaubens an die „reine Muslima“ – und zum „Abwehrkampf“ gegen den Verfall der Werte – gehört die Dichotomie, dass die nicht verschleierte Frau eben keine „reine Muslima“ ist, eventuell noch nicht einmal Muslima, mithin eine Schlampe. Sexuelle Belästigung wird somit wohlwollend toleriert, da es den Druck zur Verschleierung erhöht, die Rückkehr zum „wahren Islam“ verstärkt, in dem eine Frau erst wirklich frei sei und in dem es keine sexuelle Belästigung gebe. Dabei wird geflissentlich ignoriert, dass in Ländern mit nahezu 100-prozentiger Verschleierung und Geschlechtertrennung sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen (wie beispielsweise dem Jemen) weitaus größer ist – wenn auch statistisch nicht belegt, da es sie ja offiziell nicht gibt.

Die Herausforderung zur staatsbürgerlichen Erziehung mit Selbstverantwortung ist allerdings nochmals größer angesichts des marokkanischen Erziehungssystems sowie der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Lage: Große Jugendarbeitslosigkeit und Chancenlosigkeit nehmen jungen Marokkanern die Hoffnung auf eine prosperierende Zukunft. Viele sind gezwungen auch noch als Erwachsene bei den Eltern zu leben. Wer kein eigenes Einkommen hat, kann keinen Haushalt gründen, kann nicht heiraten und somit keinen offiziell legitimierten Sex haben. Im staatlichen Schulsystem gibt es keine Staatsbürgerkunde und keine Wertediskussionen. Hinzu kommt, dass Lehrer zumeist selbst der unteren Mittelschicht angehören und somit die Werte und Mentalität vertreten, die sie nach Auffassung El Ouadies und anderer korrigieren müssten.

Demnach werden Veränderungen Generationen brauchen. Doch nie war die Zeit, damit zu beginnen, günstiger, der Druck höher als jetzt. Die Verabschiedung des o.g. Gesetzes wäre schon einmal ein Anfang.

*Name von der Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert

Olaf Kellerhoff ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.