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Bildung
„Geld allein ist nicht die Lösung"

Vorabveröffentlichung aus der neuen Ausgabe des liberal Magazins
hurelmann

Klaus Hurrelmann ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance. Sein größtes Forschungsinteresse gilt seit jeher dem Bereich Gesundheits- und Bildungspolitik.

© Hertie School of Governance

In Sachen Bildung ist Deutschland nur noch Mittelmaß. Der Weg aus dem Reformstau führt nach Meinung eines der führenden deutschen Bildungsforscher aber weniger über das reine Öffnen der Finanzschatullen oder das simple Kopieren anderer Nationen. Warum Klaus Hurrelmann vor allem die Rolle der Eltern stärken möchte, die Bundesländer in die Pflicht nimmt und Handyverbote an Schulen für Schwachsinn hält.

Herr Professor Hurrelmann, Ihre Promotion im Fach Soziologie 1971 widmete sich dem Thema „Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation“. Wie würde Ihre Bestandsaufnahme heute ausfallen? In einer Zeit, in der allenthalben über ausfallende Unterrichtsstunden, bauliche Mängel an Gymnasien und Grundschulen, überforderte Lehrkräfte und eine unmotivierte Schülerschaft geschrieben wird?

Im Vordergrund meiner damaligen Analyse stand die Frage: Bringt es Vorteile, wenn man die Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Leistungsgruppen einteilt? Wenn man versucht, homogene Leistungseinheiten zu bilden? Das war damals die große Hoffnung. Das war verbunden mit der Einführung der Hauptschule. Und in der sollten A-, B-, C-Leistungsgruppen eingerichtet werden. A waren die starken, B die mittelstarken und C die schwächeren. Und die Hoffnung war, dass man durch eine solche homogene Einteilung die Leistungen der Kinder gezielt ansprechen und stärken könne.

Das Paradigma, heterogene Lerngruppen in homogene zu verwandeln, treibt das deutsche Schulsystem seit jeher um und an ...

Es wird dadurch leider nur nicht wahrer. Die Annahme, dass eine Homogenisierung der Schülerschaft nach ihrer Leistung ein Vorteil für die pädagogische Arbeit sei, trifft nicht zu. Das Ergebnis meiner Dissertation war, dass eine solche Homogenisierung im Grunde nur für die Leistungsstarken etwas bringt. Für die Mittelstarken hat sie keinen Vorteil, für die Leistungsschwachen aber enorme Nachteile. Wenn ich Leistungsschwache in eine Gruppe zusammentue, kann ich machen, was ich will. Die ziehen sich gegenseitig runter. Obwohl diese Erkenntnis also nun schon fast ein halbes Jahrhundert alt ist, sind wir leider nur Millimeter weitergekommen. Immer wieder scheitern wir daran, dass wir nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, dass gemischte Lerngruppen unterrichtet werden können, obwohl wir wissen, dass gemischte Lerngruppen in der Regel bessere Ergebnisse bringen.

Die Familien sind häufig übersehene Bestandteile des Bildungssystems.

Hurrelmann
Klaus Hurrelmann

Herrscht aufseiten der politisch Verantwortlichen ein mangelndes Verständnis für Forschungsergebnisse dieser Art vor oder setzt die Politik diese einfach nur nicht um?

Die Politiker sind durchaus offen für die Arbeit der Wissenschaft in diesem Bereich. Aber was die Bildungspolitik bei uns bis heute nicht gelernt hat, ist: Wie können Forschungsergebnisse in die Realität umgesetzt werden durch kluge Konzeptionen? Das geht nur, indem ich alle Gruppen mitnehme. Indem ich die Lehrerschaft genauso wie die Schülerschaft und die Elternschaft anspreche. Und das Thema auch in eine öffentliche Bildungsdiskussion hineinbringe. Bei allem, was mit Implementation von Reformen zu tun hat, sind wir wirklich völlig unbeholfen. Beispiel Inklusion: Die wird per Gesetz verordnet, ohne dass die Schulen, die Lehrerinnen und Lehrer und alle anderen Beteiligten systematisch, sorgfältig und fair darauf vorbereitet werden. Und dann staunen alle, dass das nicht funktioniert.

Sie kritisieren fehlende Methodenkompetenz. Die Politik diskutiert dagegen oft nur monetär: Für die Grundschulen fehlt Summe X, den Hochschulen Summe Y.

Einfach nur zu sagen, ihr bekommt mehr Geld, bedeutet eben nicht zwangsläufig eine Verbesserung der Qualität. Geld löst vieles, ist aber nicht allein die Lösung. Kaum ein Thema wird und wurde hierzulande so ideologisch diskutiert wie die Schul- und Hochschulpolitik. Wir sind da schon sehr viel weiter als etwa in den hochpolitischen Siebzigerjahren. Die ideologischen oder auch konzeptionellen Unterschiede werden heute nicht mehr so stark betont. Weil jeder weiß, dass wir inzwischen sehr genaue wissenschaftliche Ergebnisse darüber haben, was an einer Konzeption klug und was nicht so klug ist. Es wird heute sachlicher über Bildungspolitik diskutiert. Wir haben eigentlich gute Voraussetzungen, jetzt auch vorwärtszukommen. Und das müssen wir auch: Denn wir merken alle, dass wir kein Bildungssystem haben, das weltweit besonders positiv auffällt. Es gelingt uns weder, die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu steigern noch gleichzeitig die Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Was uns jetzt noch fehlt, ist ein Durchbruch, ein Konsens darüber, dass Bildung für unser Land von immenser Bedeutung ist.

Welches Projekt würden Sie sofort in Angriff nehmen, wenn Sie Bundesminister für Bildung wären?

Wir müssen einen viel, viel stärkeren Akzent auf die allerersten Lebensjahre setzen. Und dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das Elternhaus der wichtigste Bildungsträger ist. Alle reden nur über Kitas, Grundschulen, Gymnasien oder Universitäten. Doch die Familien sind häufig übersehene Bestandteile des Bildungssystems. Eine Faustregel ist, dass etwa die Hälfte der Leistungen der Schüler sowie ihre Persönlichkeitsmerkmale von den Eltern beeinflusst werden.

Was folgt daraus?

Die Elternhäuser müssen in die Lage versetzt werden, dieser enormen Verantwortung auch gerecht werden zu können. Wir müssen die Eltern ermuntern und sie in ihren Erziehungs- und Bildungsbemühungen unterstützen. Wir müssen die Eltern zu Laienpädagogen ausbilden, die mit professionellen in Kitas und Schulen eng kooperieren. Beide Seiten treten dabei in eine Erziehungspartnerschaft zum Wohle der Kinder ein.

Was muss aus Ihrer Sicht außerdem dringend beim Thema Bildung angepackt werden?

Die Ganztagsmodelle, die wir haben, müssen zu einem echten Ganztagsangebot ausgebaut werden. Häufig bedeutet Ganztag nur Aufsicht und Hausaufgabenüberwachung statt wirklicher Betreuung und Motivation am Nachmittag. Wir benötigen eine Schule, in der das ganze Leben spielt. In der alle denkbaren Aktivitäten möglich sind – mit Sport-, Musik- oder handwerklichen Angeboten.  Zudem würde ich gern die Autonomie der einzelnen Bildungseinrichtung beherzt weiterentwickeln. Da sind wir auf einem Drittel der Strecke stehen geblieben. Ein Blick in die Niederlande oder nach Dänemark zeigt, wie es besser laufen kann. Dort ist jeder Kindergarten, dort ist jede Schule ein kleiner pädagogischer Dienstleistungsbetrieb.

Die Große Koalition hat das heiße Eisen Kooperationsverbot, das dem Bund die Mitsprache beim Länderthema Bildung untersagt,nicht wirklich angepackt. Ein Fehler aus Ihrer Sicht?

Eindeutig. Ich hätte mir gewünscht, dass das Kooperationsverbot ganz fällt und nicht nur, wie jetzt beschlossen, in wenigen Randbereichen. Wir holen mit der föderalen Struktur, die wir haben, nicht das heraus, was eigentlich herauszuholen wäre. Wir brauchen klarere Abstimmungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Die Idee der drei Ebenen im Bildungsbereich ist eigentlich genial. Was wir heute machen, ist verkrampft: den Ländern die Hauptverantwortung zu geben. Und dann staunen wir alle, dass dabei das herauskommt, was nur natürlich ist: Sie entwickeln sich auseinander. Ausbaden müssen das dann alle, die mit ihren schulpflichtigen Kindern von Nordrhein-Westfalen nach Bayern umziehen oder von Hamburg nach Baden-Württemberg. Dass wir bundesweit 20 verschiedene Bezeichnungen für die Sekundarschulen neben den Gymnasien haben, die Gymnasien selbst von höchst unterschiedlicher Qualität sind, dass die Inhalte der Schulen unterschiedlich sind, dass die Lehrpläne voneinander abweichen und man nichts mehr vergleichen kann – all das ist unhaltbar. Das ist fehlgelaufener Föderalismus.

Wie sieht guter Föderalismus aus?

Guter Föderalismus bedeutet, dass ganz klare Rahmenbedingungen festgelegt sind: der Eintritt in das System, die Übergänge von der Grundschule auf die weiterführende Schule etwa, einzelne Einheiten bekommen einen klaren Namen und eine klare Verantwortung. Auch die Abschlusszeugnisse werden festgelegt. Zudem werden die Leistungen normiert – im ganzen Bundesgebiet sollte dann das Abitur gleichwertig sein. Wer das Abitur hat, hat das Abitur – das Bundesland spielt keine Rolle mehr.

Kanada macht beispielhaft vor, wie man Kinder aus Einwandererfamilien und damit völlig anderen Kultur­räumen erfolgreich integriert.

kanada
Klaus Hurrelmann

In welche Richtung muss sich die Bildungspolitik entwickeln?Gibt es ein Vorbild, ein Land, an dem wir uns orientieren sollten?

Es gibt nicht sehr viele Länder, die ähnlich föderalistisch strukturiert sind. Deswegen wäre hier eigentlich nur Kanada zu nennen. Dort funktioniert die Kooperation zwischen kommunaler, Provinz- und Bundesstaatebene viel besser als hierzulande. Kanada macht auch beispielhaft vor, wie man Kinder aus Einwandererfamilien und damit völlig anderen Kulturräumen erfolgreich integriert. Was wir Deutschen oft tun, ist auf die USA zu blicken und sie als Muster zu nehmen mit ihrem Mix aus staatlichen und privaten Bildungsangeboten. Doch angesichts der komplett unterschiedlichen Strukturen geht das meist schief, wie wir zuletzt im Hochschulbereich mit der Übernahme von Bachelor und Master gesehen haben. Wir haben einfach ein Modell importiert, ohne dieses vorab richtig zu implementieren. Mangelnde Implementierung: mein Thema vom Beginn unseres Gesprächs. Mit Übernahmen aus ganz anders strukturierten Systemen sollte man also sehr vorsichtig sein. Das gilt übrigens auch für die skandinavischen Länder, die bei der Bildung vieles gut machen, aber trotzdem nicht einfach als Blaupause für Deutschland taugen.

Skandinavien wird doch immer wieder als Vorbild genannt.

Die Skandinavier machen eine zentrale Sache viel besser als wir Deutschen. Sie betrachten die Bildungspolitik als Bestandteil der Sozialpolitik. Wir dagegen trennen die Bereiche. Deutschlandbetreibt eine sehr gute, aber eben auch sehr teure Sozialpolitik, die zudem immer rehabilitativ ist. Sie gleicht aus, was im Lebenslauf an Problemen entstanden ist, und reagiert. Im Gegensatz schafft eine vorausschauende Bildungspolitik überhaupt erst mal die Voraussetzungen dafür, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Wir heben traditionell die Sozialpolitik über die Bildungspolitik. Das ist unklug.

Wie durchlässig ist das Bildungssystem? Was ist dran am Vorwurf, dass über den Aufstieg aufs Gymnasium und an die Uni nur das Elternhaus entscheidet, nicht die Fähigkeiten des Kindes?

Da ist leider immer noch etwas dran. Gerade mit homogenen Lerngruppen in frühen Jahren verstärken wir die Unterschiede, die die Kinder aus ihren Elternhäusern mitbringen. Deswegen hatte ich das vorhin auch als meinen allerwichtigsten politischen Punkt genannt: die Elternhäuser anerkennen in ihrer wichtigen Rolle als Bildungsstätte, aber sie einbeziehen in das öffentliche Bildungssystem. Das ist auch die einzige Lösung, die wir hier anbieten können. Aber es gibt auch Positives: Wir sind vorwärtsgekommen, die jüngsten PISA-Studien zeigen, dass sich er Zusammenhang zwischen der Herkunft eines Kindes, der sozialen Positionierung seiner Familie und den schulischen Leistungen deutlich abgeschwächt hat.

Wir brauchen Schulen, bei denen die Kinder ihr Handy mitbringen und mit dem Handy im Unterricht arbeiten

Wir brauchen Schulen, bei denen die Kinder ihr Handy mitbringen und mit dem Handy im Unterricht arbeiten.

© Gettyimages / E+ / Steve Debenport

Der Trend zur Homogenisierung der Lerngruppen nimmt gerade wieder zu. Fast jeder, fast jede schafft es aufs Gymnasium ...

In der Tat haben wir bei den weiterführenden Schulen kaum noch eine Sortierung der Kinder in drei Schulformen, sondern nur noch die Trennung in Gymnasium und Nicht-Gymnasium. Ich bin seit Jahrzehnten der Auffassung, dass die Schulen neben dem Gymnasium so wertvoll sind, dass sie einen einheitlichen Namen im ganzen Bundesgebiet brauchen. Arbeitstitel Sekundarschule: Das ist eine Schule, die ganz stark auf anschauliches Lernen, auf Praxisorientierung, auf Lebensweltorientierung schaut. Eine Schule mit Werkstätten, die die körperlichen und sozialen Fähigkeiten, handwerklichen Fähigkeiten von Kindern auf der ganzen Breite mit anspricht. Und die auch über eine eigene Oberstufe verfügt und den Schülerinnen und Schülern alternative Wege zum Abitur offenhält. Viele Bundesländer haben entsprechende Weichen in die Richtung gestellt. Aber all das geschieht nicht beherzt und wieder nicht koordiniert.

Gibt es zu viele Gymnasiasten?

Das Gymnasium ist die Hauptschule von heute. Das ist einerseits erfreulich. Andererseits verliert dem Gymnasium den Exklusivitätsstatus, wenn jede Zweite und jeder Zweite das Abitur in der Tasche hat. Wir brauchen aber Eliten. Wir brauchen sehr gute Schülerinnen und Schüler. Die internationalen Vergleiche zeigen, dass selbst unsere derzeit besten Schüler weltweit nur Mittelmaß sind. Und zugleich kommen unsere schwachen Schüler aus einer Versagenskonstellation selten heraus. Die deutschen Schulen liefern nur Bildung auf Durchschnittsniveau.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der Zukunft der Bildung? Anders gefragt: Wie digital muss Bildung heute sein?

Das ist jetzt unsere größte Herausforderung auf der didaktischen Ebene. Wir haben die Situation, dass die Schüler digital viel behänder sind, viel bessere Fertigkeiten haben als der normale Lehrer und die normale Lehrerin. Die jungen Leute sind mit digitalen Geräten, mit den Netzwerken groß geworden und gehen ganz selbstverständlich mit ihnen um. Es gibt auch Schulen, die das anerkennen. Die machen jeden Montag um elf Uhr eine Lehrerfortbildung, und die Lehrerfortbildung wird von den Schülerinnen und Schülern gemacht. Die Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler im digitalen Bereich aus der Schule auszuschließen, was die meisten Schulen heute tun, ist mit Sicherheit der falsche Weg. Es ist Blödsinn, wenn die Kinder und Jugendlichen am Eingang der Schule alle Geräte abgeben müssen, dann in der Schule mit Kreide und Papier arbeiten, und nach der Schule oder in der Pause bekommen sie dann ihre Smartphones ausgehändigt. Die reale Welt ist heute eine digitale Welt. Wie die beste Lösung dafür aussieht, dass die Bildung in der Schule auch digital ist, weiß heute noch kein Mensch. Gerade deswegen benötigen wir Experimente. Wir brauchen Schulen, bei denen die Kinder ihr Handy mitbringen und mit dem Handy im Unterricht arbeiten. Ich plädiere für digitale Versuchsschulen, für knisternde, spannende Experimente, die gut begleitet werden, gut ausgestattet sind, bevor wir flächendeckend überall sagen: Wir statten jede Schule mit der Hardware aus.

Welche Schlagzeile über das deutsche Bildungssystem würden Sie im Jahr 2025 gerne lesen?

„Deutschland bei neuer PISA-Studie ganz oben.“

Klaus Hurrelmann ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance. Sein größtes Forschungsinteresse gilt seit jeher dem Bereich Gesundheits- und Bildungspolitik. Hurrelmann war Gründungsdekan der ersten Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland an der Universität Bielefeld. Der 74-Jährige ist Mitglied des Leitungsteams mehrerer fortlaufender nationaler Studien zur Entwicklung von Familien, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zuvor war Hurrelmann Professor für Sozialisation an den Universitäten Essen und Bielefeld. Er hat an den Universitäten in Münster und im kalifornischen Berkeley studiert.