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Atomwaffensperrvertrag

Hat die nukleare Rüstungskontrolle noch eine Zukunft?

Am 5. März 2020 feierte die Weltgemeinschaft den 50. Jahrestag des Inkrafttretens des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (Nichtverbreitungsvertrag, NVV bzw. Atomwaffensperrvertrag). Die für Mai 2020 in New York angesetzte Überprüfungskonferenz (review conference, RevCon)1 des NVV musste aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden. Zu hoffen bleibt, dass die Teilnehmerstaaten, insbesondere die fünf offiziellen Atommächte (P5) die Zwischenzeit nutzen werden, um den Dialog über strategische Sicherheit und nukleare Rüstungskontrolle weiterzuführen, denn das nukleare Wettrüsten und die Erosion des traditionellen Abrüstungs- und Rüstungskontrollregimes bedrohen die Menschheit mindestens in dem Maße, wie es die Pandemie tut.

Vielversprechend erscheint der Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin, noch in diesem Jahr einen P5-Gipfel einzuberufen. Diesem haben die USA, China, Frankreich und Großbritannien inzwischen zugestimmt. Von ihm könnte ein neues Momentum zur Etablierung eines tri- oder gar multilateralen Rüstungskontrolldialoges ausgehen. Auf seinen Vorschlag, „den New-Start- Vertrag ohne Verzögerung und ohne alle Vorbedingungen zu verlängern“, den Putin im Dezember 2019 offiziell vor Militärvertretern des Verteidigungsministeriums geäußert hatte, hat er hingegen bis heute noch keine Antwort erhalten. Die Corona-Pandemie führt der Welt einmal mehr vor Augen, wie notwendig und dringlich eine effektive globale Governance und internationale Zusammenarbeit sind – in der Gesundheitspolitik genauso wie bei der Rüstungskontrolle.

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50 Jahre Atomwaffensperrvertrag

Der seit März 1970 geltende Atomwaffensperrvertrag ist das einzige multilaterale Vertragswerk, das die Staaten der Weltgemeinschaft völkerrechtlich bindend zu nuklearer Abrüstung und Nichtverbreitung verpflichtet. Mit 191 Vertragsstaaten ist er zudem einer der universellsten Verträge. Nur vier Staaten sind nicht Mitglieder geworden: Indien, Israel, Pakistan und Südsudan. Der Status Nordkoreas, das im Januar 2003 aus dem Vertrag ausgetreten ist, wird seither von der NVV-Gemeinschaft offengehalten.

Der Vertrag beinhaltet drei Säulen: 1) Nicht-Verbreitung (Artikel I-III): d.h. die Verpflichtung der Nicht-Nuklearwaffenstaaten (NNWS) auf den Erwerb von Nukleararsenalen zu verzichten, 2) die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie (Artikel IV) sowie Abrüstung (Artikel VI): d.h. die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten (P5-Staaten) zur nuklearen Abrüstung. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) kontrolliert die Einhaltung des Vertrags durch Vor-Ort-Inspektionen.

Länder/Gruppierungen und ihre Positionen

Die P5-Gruppe

Diese Gruppe umfasst die offiziell anerkannten Atommächte USA, Frankreich, Großbritannien, Russland (ehem. Sowjetunion) und die Volksrepublik China. Sie waren die Initiatoren des Atomwaffensperrvertrages und erlangten ihren Status dadurch, dass sie vor dem 1. Januar 1967 Kernsprengköpfeentwickelt und gezündet hatten. Sie sind auch die permanenten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates.

Nicht-Verbreitungs- und Abrüstungsinitiative / Non-Proliferation and Disarmament Initiative (NPDI)

Diese Gruppe hat sich nach der RevCon 2010 gegründet. Ihr Hauptanliegen ist die Umsetzung des dort verabschiedeten Aktionsplanes zur nuklearen Abrüstung. Neben den Initiatoren Australien und Japan gehören der Initiative auch Deutschland, Chile, Japan, Kanada, Mexiko, die Niederlande, Nigeria, Philippinen, Polen, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate an. Deutschland hat seit 2015 die Koordinatorenrolle inne.

New Agenda Coalition (NAC)

Zu dieser Gruppe von Nicht-Atomwaffenstaaten gehören Brasilien, Ägypten, Irland, Mexiko, Neusee- land und Südafrika. Ihr oberstes Ziel ist die schnelle nukleare Abrüstung, wie in Art. VI NVV festgelegt. Ihre Mitglieder haben auch den UN-Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 unterschrieben und ratifiziert. Blockfreie Bewegung (Non-Aligned Movement, NAM) mit mehr als 120 Mitgliedern setzt sie sich ebenfalls für nukleare Abrüstung sowie für die Beendigung der nuklearen Teilhabe ein.

Vienna Group of Ten

Dieser Gruppe haben sich Australien, Kanada, Neuseeland, Norwegen und die EU-Staaten Niederlande, Österreich, Dänemark, Finnland, Ungarn und Schweden angeschlossen. Sie tritt v.a. für Moratorien und ein Verbot von Atomtests (Test Ban Treaty) ein.

Bilanz des NVV

Der NVV gilt vielen immer noch als Meilenstein der internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsdiplomatie. Dass seit 75 Jahren keine Atomwaffen mehr zum Einsatz gekommen sind, darf zweifelsohne als großer Erfolg gelten. Mit Blick auf die drei Säulen des Vertrages fällt die Bilanz jedoch sehr unterschiedlich aus:

Nicht-Verbreitung: die besondere Leistung des NVV-Vertrages besteht darin, dass er maßgeblich dazu beigetragen hat, die Verbreitung von Atomwaffen auf eine relativ kleine Anzahl von Ländern zu begrenzen.

Nur 13 Staaten der Welt hatten jemals Atomwaffen, vier von ihnen – Südafrika, Belarus, Kasachstan und die Ukraine – haben sie wieder aufgegeben. Damit verbleiben aktuell neun (bekannte) Atomwaffenstaaten – neben den P5 sind dies Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Die Wiener Nuklearvereinbarung mit Iran von 2016 war ein weiterer großer Erfolg, der durch die einseitige Aufkündigung durch die USA jedoch inzwischen in Frage steht.

Bemühungen um eine De-Nuklearisierung Nordkoreas sind dagegen bisher gescheitert. Die große Mehrheit der Staatengemeinschaft (insgesamt 122) hat ihren Beitrag zum Prinzip der Nichtverbreitung dadurch geleistet, dass sie im Juli 2017 dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) zugestimmt hat. Er wurde inzwischen von 80 Staaten unterzeichnet und von 35 ratifiziert. Damit fehlen für das Inkrafttreten aktuell noch 15 Ratifizierungen. Der Vertrag verbietet Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die Drohung damit.

Explizit verboten wird darin auch die atomare Teilhabe. Die Atommächte sowie alle NATO-Mitgliedsstaaten (auch Deutschland) haben sich an dieser Initiative nicht beteiligt. Dagegen wurde sie von einem globalen Netzwerk hunderter NGOs unterstützt und vorrangig von der „International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) koordiniert, die dafür im Dezember 2017 den Friedensnobelpreis erhielt.

Auf Kritik stößt das seit langem von der NATO praktizierte Prinzip der nuklearen Teilhabe. In der Weitergabe und Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in anderen NATO-Staaten (Belgien, Deutschland, Niederlande, Griechenland, Türkei) sehen viele eine Verletzung des Prinzips der Nichtverbreitung. Und auch mit Blick auf das Völkerrecht ist diese Praxis höchst umstritten, denn Atomwaffen lagern auf dem Territorium von Staaten, die als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten.

Zivile Nutzung: Die zivile Nutzung der Kernenergie ist ein sehr ambivalentes Thema: einerseits birgt sie großes Potential in der Medizin, Industrie, Landwirtschaft und Forschung, gleichzeitig hat sie jedoch auch dafür gesorgt, dass heute in vielen Staaten wichtige technische Voraussetzungen bestehen, um binnen kurzer Zeit eigene Atomwaffen zu entwickeln. Auch die Gefahr, dass nichtstaatliche Akteure und terroristische Gruppierungen in den Besitz von Atomwaffen gelangen ist dadurch stetig gestiegen.

Nukleare Abrüstung: Die Umsetzung der Abrüstungsverpflichtungen nach Art. VI NVV bleibt auch 50 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages weit hinter den Vereinbarungen zurück. Viele Kritiker werfen den Atommächten vor, ihren Verpflichtungen zur Abrüstung nicht nachzukommen, sondern stattdessen ihre Arsenale zu modernisieren und neue Waffen und Trägersysteme zu entwickeln. Zwar ließen die bloßen Zahlen den Eindruck entstehen, als ob abgerüstet würde – so sank die Zahl der Atomwaffen weltweit von ca. 70.000 im Kalten Krieg auf aktuell knapp 14.000 – doch die P5-Atommächte rüsteten vor allem solche Waffen ab, die ohnehin nicht mehr einsatzbereit seien. Gleichzeitig modernisierten sie ihr Arsenal. Russland und die USA verfügen mit 7.000 bzw. 6.800 Atomwaffen immer noch über rund 92% des weltweiten Arsenals. Zudem haben von den neun Atommächten nur die Volksrepublik China und Indien ihren Verzicht auf den atomaren Erstschlag (No first use policy) erklärt.

Diverse Bemühungen im Rahmen des NVV die nukleare Abrüstung zu beschleunigen, wie z.B. die 13 Schritte zur vollständigen atomaren Abrüstung aus der RevCon 2000 oder dem NVV-Aktionsplan von 2010 haben bislang nicht zum gewünschten Ziel geführt. Die Nicht-Erfüllung von Art VI des NVV ist Ursache für die sich seit Jahren verschärfende Polarisierung zwischen Atomwaffenstaaten und Nicht- Atomwaffenstaaten und birgt enormes Sprengpotential für das gesamte Vertragswerk.

NVV-Überprüfungskonferenz 2020/21: Rahmenbedingungen & Zielsetzung

Die Überprüfungskonferenz 2020/21 findet in einem besonders herausfordernden globalen Sicherheitskontext statt. Dieser ist geprägt von weltweit zunehmenden Spannungen zwischen den Großmächten USA, Russland und China, der Kündigung lange funktionierender Rüstungskontrollabkommen, einem neuen nuklearen Wettrüsten sowie der Zunahme regionaler Sicherheitsrisiken. Die bedrohliche Erosion des traditionellen Abrüstungs- und Rüstungskontrollregimes zeigt sich v.a. anhand folgender Entwicklungen:

  • Mai 2018: Einseitige Aufkündigung des Atom- abkommen mit Iran (Joint Comprehensive Plan of Action JCPOA) durch die USA. Das Abkommen galt als historische Errungenschaft und als wichtiger Beitrag der EU zum globalen Nichtverbreitungsregime. Dadurch könnte ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf in Nah- und Mittelost ausgelöst werden 
  • Februar 2019: Kündigung des INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces) über das Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen zwischen 500 und 5500 Kilometer. Wirkt sich sehr negativ auf die Sicherheitslage gerade in Europa aus, weil der Kontinent nun durch die neuen russischen Mittelstreckenraketen direkt bedroht wird.
  • Mai 2020: Die Trump-Regierung kündig auch den Open-Skies-Vertrag, der den 34 Unterzeichnerstaaten unbewaffnete Aufklärungsflüge über dem Territorium aller Vertragsstaaten erlaubt. Das Abkommen war ein wichtiges Instrument für militärische Transparenz und Vertrauensbildung.
  • Der Vertrag über das umfassende Verbot von (Nuklear)-Tests (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) von 1996 ist immer noch nicht in Kraft. Zwar haben ihn bereits 183 Staaten gezeichnet und 166 ratifiziert, aber es fehlen immer noch acht der sog. „Annex-2“ Staaten, nämlich Iran, Israel, Ägypten, China, USA, Indien, Pakistan und Nordkorea. Die drei letztgenannten Staaten haben den Vertrag bisher nicht unterzeichnet und sind die einzigen, die nach 1996 noch Atomtests durchgeführt haben.
  • Die Aushandlung eines Vertrags über das Verbot der Herstellung spaltbarer Stoffe (Fissile Material Cut-Off Treaty) wäre von höchster Priorität, ist aber derzeit nicht in Sicht.
  • Keine Fortschritte bei der Denuklearisierung Nordkoreas.
  • Mangelnde Fortschritte bzgl. der Einrichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten. Die entsprechende NVV-Resolution stammt bereits aus dem Jahr 1995. Zu nennenswerten Fortschritten kam es bisher nicht.
  • Im Februar 2021 steht die Verlängerung des New-Start Abkommens zur Begrenzung strategischer Kernwaffen der USA und Russlands an. Sollten sich Moskau und Washington nicht darauf einigen können, wäre zum ersten Mal seit 1972 kein Rüstungskontrollabkommen mehr in Kraft.

Zugleich werden die Herausforderungen immer komplexer. Das Wettrüsten ist inzwischen auf den Weltraum und in die Cyberdomäne ausgedehnt. Neue technologische und militärtechnische Entwicklungen – wie etwa Cyber- und Hyperschallwaffen oder durch künstliche Intelligenz gesteuerte autonome Waffensysteme haben die dritte Revolution in der Kriegsführung – nach der Erfindung des Schießpulvers und der Atomsprengköpfe – eingeläutet. Während die USA, Russland und China um die Technologieführerschaft wetteifern, müssen kleinere Atomwaffenstaaten befürchten, ihre Zweitschlagfähigkeit zu verlieren. Damit würde das Prinzip des „Gleichgewichts des Schreckens“ (mutually assured destruction, MAD) endgültig obsolet. Rüstungskontrolle in nichtnuklearen Bereichen könnte entscheidend werden, um eine nukleare Eskalation in Zukunft zu verhindern.

Die Überprüfungskonferenz 2020 findet auch in einem besonders herausfordernden internen Kontext statt. Die Polarisierung zwischen den 191 NVV-Vertragsstaaten ist über die Jahre stetig gewachsen und war während der RevCon 2015 so eskaliert, dass sich die Vertragsstaaten nicht einmal mehr auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen konnten. Die Konflikte entzündeten sich vor allem an den unzureichenden Fortschritten bei der nuklearen  Abrüstung und der Etablierung einer nuklearwaffenfreien Zone im Nahen Osten. Umso höher ist der Erfolgsdruck auf die RevCon 2020.

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