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Türkei
Lokalwahlen in der Türkei mit Überraschungsergebnis

People in Turkey celebrate after local elections

Die Türkei hat gewählt

Am 31. März 2024 waren die Türkinnen und Türken ein weiteres Mal zu den Wahlurnen gerufen, um ihre Bürgermeister, Stadträte und Stadtteilvorsteher zu wählen. Die Stimmung im Vorfeld war wenig optimistisch, der Wahlkampf für türkische Verhältnisse blutleer. Sowohl Umfrageinstitute als auch der Trend des letzten Jahres legten nahe, dass einige der bisher oppositionsregierten Großstädte in die Hand der regierenden AKP fallen würden. Doch es kam ganz anders.

In einem erdrutschartigen Sieg gewann die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) insgesamt 37,7 Prozent der Stimmen und löste damit die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, 35,4 Prozent) als stärkste Partei ab. Einen solchen Erfolg hatte die CHP seit 1977 nicht erringen können, und für die AKP ist es die erste derart ausgeprägte Niederlage ihrer Geschichte. Die CHP regiert jetzt in 35 Städten statt zuvor in 21, die AKP verlor von den bisher gehaltenen 39 Städten 15. Dies ist umso bemerkenswerter, als natürlich auch diese Wahl wieder unter höchst unfairen Bedingungen stattfand, blickt man allein darauf, dass mehr als 90 Prozent der Medien regierungstreu sind und die Opposition gar nicht zu Wort kommt. Die Frustration mit der Politik ließ sich durchaus auch an der ungewohnt niedrigen Wahlbeteiligung von nur 78 Prozent ablesen. Die Wahlbeteiligung ist in der Türkei traditionell sehr hoch, im Vorjahr betrug sie 88 Prozent.

Drittstärkste Partei wurde die radikalislamistische YRP (Neue Wohlfahrtspartei). Sie stellt offenbar eine Alternative für religiöse Wähler dar, die mit der AKP unzufrieden sind, deshalb aber nicht ins säkulare Oppositionslager wechseln wollen. Die YRP erhielt 6,1 Prozent der Stimmen und sogar zwei Städte. In Şanlıurfa war sie etwa mit einem populären Ex-AKP-Abgeordneten ins Rennen gezogen.

Herausragend ist sicherlich der Wahlsieg Ekrem İmamoğlus in Istanbul. Der Wunsch des Präsidenten, die gewichtige Metropole wieder in AKP-Hand zu bekommen, erfüllte sich nicht annähernd. Amtsinhaber İmamoğlu erhielt 51,24 Prozent der Stimmen und ließ damit seinen blassen Gegenkandidaten Murat Kurum um mehr als zehn Prozentpunkte hinter sich. Viele sehen den wiedergewählten Istanbuler Bürgermeister nun als den künftigen Präsidentschaftskandidaten der CHP für die Wahlen 2028 und rechnen ihm gute Chancen aus.

Beinahe völlig aus dem Blickfeld verschwanden dagegen die kleinen Parteien, die sämtlich mit eigenen Kandidaten ins Rennen gegangen waren. Die rechtsextreme MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) – Erdoğans Partner im Parlament – gewann zwar acht der 81 Regionalzentren, erreichte aber insgesamt nicht einmal 5 Prozent. Auf 3,7 Prozent kam die İYİ-Partei („Gute Partei“). Auch die prokurdische und linke DEM (Gleichheits- und Demokratiepartei der Völker) hatte sich mehr erhofft als ein Ergebnis von 5,6 Prozent. Die Kandidatin in Istanbul, Meral Daniş Beştaş, erhielt sogar nur gut 2 Prozent der Stimmen – die kurdischen Wählerinnen und Wähler entschieden sich offenbar überwiegend taktisch für İmamoğlu. Kleinparteien wie die Saadet (Glückseligkeitspartei), die islamistische Gelecek Partisi (Zukunftspartei) und die liberalkonservative DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) sind kaum noch messbar und dürften um ihr Fortbestehen bangen.

Gründe für das Wahldebakel der AKP

Wichtigster Grund für das Wahldebakel der AKP ist ganz offenbar die Inflationskrise, die die Menschen seit nunmehr über drei Jahren mit extrem steigenden Lebenshaltungskosten belastet. Insbesondere die Rentner, deren Bezüge inzwischen unter der Armutsgrenze liegen, scheinen die Regierung abgestraft zu haben. Während Erdoğan in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch mit identitätspolitischen Themen punkten konnte, schlägt inzwischen die Wut über die alltägliche Misere durch, gepaart mit der Enttäuschung von dysfunktionalen AKP-Strukturen auf lokaler Ebene. So konnte die CHP Erfolge auch im ländlichen Anatolien erzielen, die bisher stets Hochburgen der AKP gewesen waren.

Bemerkenswert sind die Verluste der AKP in den Erdbebenregionen: Adyaman, eine konservative Region, ging erstmals an die CHP. Die Regierung erhielt die Quittung für unzureichendes Krisenmanagement und den schleppenden Wiederaufbau. Einen Sonderfall stellt das am schlimmsten betroffene Hatay dar. Hier hatte sich der amtierende CHP-Bürgermeister als Kandidat durchgesetzt, obwohl die Wut auf ihn wegen des schlechten Katastrophenmanagements genauso groß ist wie auf die Regierung und sich im Wahlkampf sogar in öffentlichen Protesten ausdrückte. Viele Menschen in Hatay verweigerten daraufhin die Wahl zwischen zwei Übeln und blieben schlicht zu Hause – die Wahlbeteiligung hier lag nur bei ca. 60 Prozent (zuvor 97 Prozent). Am Ende siegte der AKP-Kandidat Mehmet Öntürk mit hauchdünnem Vorsprung und stellt damit den wenig strahlenden einzigen Neugewinn der Erdoğan-Partei dar.

„Wir haben verstanden“

Der Präsident trat nach Mitternacht in Ankara vor seine Anhänger. Er hielt keine Kampfesrede, sondern erkannte die Niederlage in bemerkenswerter Bescheidenheit an. "Wir werden unsere Fehler korrigieren und unsere Unzulänglichkeiten beseitigen", so Erdoğan. "Wenn wir einen Fehler gemacht haben, werden wir ihn beheben [...] wenn uns etwas mangelt, werden wir es korrigieren." Die Entscheidung des Volkes, die sich ohne Druck, Zwang oder Weisung an der Wahlurne zeige, sei ein großer Gewinn für die Demokratie. Der 31. März sei für die AKP nicht das Ende, sondern ein Wendepunkt.

Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel bezeichnete es als wichtigste Botschaft des Tages, dass die CHP die unsichtbare Glasdecke von 25 Prozent „durchbrochen und vollständig zerschlagen“ habe. Die CHP sei jetzt „die Partei aller Demokraten und gleichzeitig die Partei, in der nationalistische, konservative und kurdische Demokraten gemeinsam wählen können“.

Ein Freudenfest feierten viele Istanbuler mit ihrem alten und neuen Bürgermeister. İmamoğlu versuchte bei seiner Rede mit aufgekrempelten Hemdsärmeln Brücken über die Lager hinweg zu schlagen. Ganz ausdrücklich sprach er alle Bevölkerungsteile an. „Heute haben 16 Millionen Istanbuler gewonnen. […] Möge es für jeden Einzelnen der Nation, jeden Glauben, jede Sekte, die Kurden dieser Stadt und Menschen jeder ethnischen Herkunft von Nutzen sein.“ Die Stadt werde er nicht mit Parteilichkeit, sondern mit Kompetenz führen. Kaum zu übersehen, dass sich hier eine präsidiale Figur empfiehlt.

Wie weiter in der Türkei?

Die nächsten Wochen werden zeigen, wie Recep Tayyip Erdoğan mit der Lehre umgehen wird, die ihm das Volk erteilt hat. Entscheidend ist dabei, ob er den eingeschlagenen Weg in der Finanzpolitik weitergeht, der nach der hausgemachten Inflationskrise das Land wirtschaftlich gesunden lassen soll. Das Tal der Tränen mit noch zunehmenden Härten für die Bevölkerung steht noch bevor, doch eine Besserung dürfte sich rechtzeitig einstellen, um die AKP für die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2028 wieder zum Sieger zu machen. Der Präsident und sein Finanzminister Mehmet Şimşek kündigten am Wahlabend übereinstimmend eine Fortsetzung des bisherigen Kurses an. Gelegentlich geäußerte Vermutungen, Şimşek werde als Sündenbock entlassen werden, könnten unbegründet sein.

Zu beachten bleibt auch, wie der Präsident mit den kurdisch dominierten Regionen umgehen wird. Nach den letzten Lokalwahlen 2019 hatte der Präsident fast alle der 60 gewählten Bürgermeister aus dem Amt entfernen und durch Staatsbeamte ersetzen lassen. Dass Siegesfeiern im kurdisch dominierten Osten des Landes bereits wieder mit Verhaftungen einhergingen, lässt nichts Gutes ahnen. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass sich der Präsident angesichts seiner schwindenden Wählerschaft auch wieder auf die Kurden als potentielle Partner besinnt und im Laufe der nächsten Jahre auf sie zugeht.

Schwierige Fragen müssen sich die kleinen Oppositionsparteien stellen, allen voran die İYİ-Partei. Mehrere ranghohe Parteifunktionäre traten direkt nach der Wahl aus der Partei aus, nachdem es bereits im vergangenen Jahr Auflösungserscheinungen gegeben hatte. Die Vorsitzende Meral Akşener überhörte zunächst erste Rücktrittsforderungen, will aber immerhin bald einen Parteitag einberufen.

Innerhalb der CHP könnte sich mittelfristig die Machtfrage stellen. Die Bürgermeister der größten Metropolen – Ekrem İmamoğlu in Istanbul und Mansur Yavaş, der Ankara mit über 60 Prozent wiedergewann – hätten beide Grund, den Parteivorsitz von Özgür Özel zu beanspruchen.

Doch wie immer sich die Opposition nach dem durchschlagenden Erfolg aufstellt, eins sollte ihr klar sein: Die Wahlen vom 31. März waren vor allem eine Niederlage der AKP. Viele Wähler, die die Partei abgestraft haben, verehren trotzdem den Präsidenten. Viele von ihnen wählten nicht die CHP, sondern blieben zu Hause. Um in der Türkei wieder demokratische Spielregeln zu etablieren, bleibt noch viel zu tun.