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Bildungschancen
Das Haus gewinnt immer?

Schulklasse
© picture alliance/dpa | Frank Hammerschmidt

In jeder Spielhalle dieser Welt gilt das Motto: „the house always wins“. Auch wenn hin und wieder jemand den Jackpot knackt, benachteiligen die Wahrscheinlichkeitsverteilungen den Spieler doch so sehr, dass der Spielhallenbetreiber am Ende als Gewinner dasteht. Auch in der Bildungsforschung gilt eine ähnliche Annahme: Das Haus, in diesem Fall die soziale Herkunft, entscheidet über die Chancenverteilung. So sieht es dann auch der neue ifo-„Ein-Herz für Kinder“-Chancenmonitor, den das Team um den renommierten Bildungsexperten Ludger Wößmann in dieser Woche vorgestellt hat. Der Chancenmonitor, so die Autoren, misst „die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund.“ Das Ergebnis lässt jeden einarmigen Banditen als Wohltäter dastehen: „Beispielsweise liegt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei 21,5 %, wenn ein Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund aufwächst“, schreiben die Autoren, „Im Gegensatz dazu liegt sie bei 80,3 %, wenn das Kind mit zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund aufwächst.“

Die Ergebnisse der Studie

Die Ergebnisse, die auf einer umfangreichen Auswertung der Daten des Mikrozensus 2019 basieren, haben für Empörung und Besorgnis gesorgt, auch bei den Liberalen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger erklärte beispielsweise im Bundestag, dass der Chancenmonitor zeige, „dass in unserem Land die Chancen noch nicht gerecht verteilt sind, und daran müssen wir arbeiten.“ In der Tat gehört es zur freiheitlichen DNA, dass jedes Kind unabhängig von seiner sozialen Herkunft die bestmöglichen Bildungschancen erhalten soll. Wie viel die Eltern verdienen, ob sie selbst das Abitur besitzen und ob sie über einen Migrationshintergrund verfügen, sollte keinen Unterschied machen. Der Chancenmonitor zeigt allerdings, dass dies ein bloßes Wunschdenken ist: Insgesamt 40 Kombinationen erstellten die Autoren, um die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs in Bezug zum familiären Hintergrund zu setzen:

Die Tabelle zeigt nochmal in aller Klarheit, was bereits seit vielen Jahren der Konsens der deutschen Bildungsdebatte ist: Wie die OECD beispielsweise oft bemängelt hat, scheinen die Bildungschancen in Deutschland vom familiären Hintergrund abzuhängen. Haben die Eltern selbst das Abitur und liegt das Haushaltseinkommen hoch, gehen die Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium – die Spanne zwischen dem niedrigsten Wert (21.3) und dem höchsten (80.6) scheint die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland klar zu dokumentieren.

Erklärungen und Empfehlungen

Der Chancenmonitor enthält nicht nur eine Auswertung zu den Wahrscheinlichkeiten, das Gymnasium zu besuchen, sondern macht auch einige Empfehlungen, wie die Politik die Spreizung adressieren könnte. Hierzu zählen der Ausbau von frühkindlichen Bildungsangeboten für benachteiligte Kinder, die zusätzliche Unterstützung für die Familien von benachteiligten Kindern sowie frühe und kostenfreie Nachhilfeprogramme. Außerdem sollten die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern gebrachten werden und Mentoringprogramme aufgesetzt werden. Abschließend spricht sich der Bericht auch dafür aus, die Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulen zu verschieben. Vor allem letztere Empfehlung sorgte allerdings durchaus für Widerspruch, beispielsweise vom Mannheimer Bildungssoziologen Hartmut Esser, der bereits seit einiger Zeit die These vertritt, dass die Differenzierung des Schulsystems in verschiedene Schulformen gerade kein Grund für Bildungsungleichheit ist. Esser vertritt dabei unter anderem das Argument, dass die kausalen Ursachen nicht ausreichend berücksichtigt würden, beispielsweise was die Verteilung der Leistungen vor dem Eintritt in das formale Bildungssystem, die Aspirationen der Eltern oder die „Effekte der freien Wahl“, wenn Eltern aus den höheren Schichten gezielt ihre Kinder in einzelnen Schulen clustern, betrifft.

In der Tat lässt der Chancenmonitor einige Fragen offen. Sucht man die statistischen Zwillinge heraus, so lässt sich beispielsweise etwas klarer herausarbeiten, wie sich der Migrationshintergrund möglicherweise auf die Bildungschancen auswirkt:

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© ifo-Chancenmonitor 2023

Auch wenn die Zahl der Beobachtungen zum Teil relativ gering ist, was auch die hohen Ausschläge in den Extremen erklären dürfte, so zeigt sich grundsätzlich das Bild, dass ein Migrationshintergrund tatsächlich von Nachteil sein könnte. In einem Land, welches sich als weltoffen und tolerant versteht, sind dies verstörende Zahlen. Gleichzeitig bleibt allerdings die Frage nach den kausalen Zusammenhängen – warum haben Kinder mit Migrationshintergrund sogar bessere Chancen, wenn man sich in der höchsten Einkommensgruppe und in Familien mit zwei Elternteilen mit Abitur bewegt?

Grundsätzlich ist es sehr erfreulich, dass der Chancenmonitor verschiedene Variablen, von denen man einen Einfluss auf die Bildungschancen erwarten könnte, berücksichtigt. Angenommen, der Bildungserfolg hinge nur vom Einkommen ab: Wenn man nun eine Statistik erstellen würde, die ausschließlich den Bildungserfolg in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund messen würde und dabei zu gravierenden Unterschieden käme, so hätte man am Ende nur den Zusammenhang von Einkommen und Migrationshintergrund erfasst. Der Nationale Bildungsbericht stellt beispielsweise drei Risikolagen in den Vordergrund, die in hohem Maße mit schlechten Bildungschancen korrelieren: „das Risiko formal gering qualifizierter Eltern, die soziale und die finanzielle Risikolage“ (S.6). Schaut man sich nun die Daten genauer an, wird deutlich, dass sich diese Risikolagen häufig bei Kindern mit Migrationshintergrund finden – ein Zeichen dafür, dass die Art der Einwanderung die Performance des Bildungssystems maßgeblich mitbestimmt. Indem der ifo-Chancenmonitor allerdings auch den sozialen Hintergrund aufschlüsselt, wird das Bild durchaus geschärft – und doch wird vor allem deutlich, dass eigentlich noch viel kleinteiligere Untersuchungen notwendig wären. Hinter der Variable „Migrationshintergrund“ kann sich schließlich die Schweizer Professorentochter ebenso verstecken wie der somalische Arbeitersohn.

Deskriptiv statt kausalanalytisch

In einem umfangreichen Thread auf Twitter ist Ludger Wößmann auf einige Anmerkungen und auch auf die Kritik von Esser eingegangen. Hier betont er unter anderem, dass es „offensichtlich“ sei, dass die Berechnungen des Chancenmonitors, „die den Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Bildungsmaßen von Kindern angeben, sind ganz offensichtlich deskriptiver (und nicht kausalanalytischer) Natur“ seien. „Für die normative Fragestellung der Chancengleichheit“, so Wößmann weiter, sei „eine solche deskriptive Betrachtung die relevante Betrachtungsweise.“

Aus den Daten ergibt sich tatsächlich politischer Handlungsbedarf, denn die Spreizung zeigt ohne Zweifel, dass Bildungschancen nicht gerecht verteilt sind. Grundsätzlich lässt sich hier also beispielsweise Rückenwind für das Startchancenprogramm der Bundesbildungsministerin ableiten, welches diese Bildungsungerechtigkeit gezielt adressieren will. Die Empfehlung, die besten Lehrkräfte an die Schulen mit den meisten benachteiligten Kindern zu schicken, findet übrigens auch Zustimmung bei Kritikern des Chancenmonitors. Dennoch bleiben noch viele Fragen offen: Gerade bei der umstrittenen Frage, wie sich der soziale Hintergrund denn genau auf die Bildungschancen auswirkt, gibt es in der Fachliteratur durchaus unterschiedliche Meinungen.

Blickt man allein auf die Wahrscheinlichkeiten, so entsteht in der Tat schnell der Eindruck, dass der Weg zum Abitur ein Spiel mit gezinkten Karten ist. Doch im Gegensatz zum Casino sind die genauen Mechanismen alles andere als eindeutig. Von den kognitiven Fähigkeiten bis hin zu den Bildungsaspirationen der Eltern gibt es viele Faktoren, auf die das formale Bildungssystem kaum Einfluss hat. Andere Faktoren können von der Sozialpolitik adressiert werden, sind aber nicht die originäre Aufgabe des Bildungssystems. Besonders gefährlich ist die Versuchung, auf Ungleichheiten in der Statistik mit einer Gleichmacherei des Bildungssystems zu reagieren. Gerade weil viele Ungleichheiten ihre Wurzeln außerhalb des Klassenzimmers haben – schon allein, weil bereits die ersten Jahre der frühkindlichen Entwicklung entscheidende Weichen stellen – würden auf diese Weise Ungleichheiten erst verdeckt und am Ende vielleicht sogar verstärkt werden. Der ifo-Chancenmonitor ist ein wichtiger Beitrag zur Bildungsdiskussion in Deutschland. Das Startchancen-Programm dürfte sich als wichtiger Baustein erweisen, die bestehenden Ungleichheiten zumindest teilweise zu adressieren. Doch für Empfehlungen, die darüber hinaus gehen, ist weitere Forschung dringend erforderlich – auf den zweiten Band von Essers „Wie kaum in einem anderen Land…“ darf man beispielsweise gespannt sein.

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